GSa163_Sept23_ES
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Thema: Pausenkulturen<br />
plant; s. o.). Nach der Pause beginnen sie<br />
mit einer neuen Aufgabe und einem anderen<br />
Versuch/Phänomen.<br />
Fazit<br />
Von außen festgesetzte, vorgeschriebene<br />
und für alle Schüler*innen verpflichtende<br />
Pausen kommen eigentlich nie zum<br />
richtigen Zeitpunkt. Weder allgemeingrundschuldidaktisch<br />
oder grundschulpädagogisch<br />
betrachtet (hinsichtlich<br />
der individuellen Bedürfnisse nach<br />
Erholung, Bewegung oder Zerstreuung)<br />
noch aus einer fachdidaktischen Perspektive<br />
(hinsichtlich der individuellen Interessen<br />
und Lern- bzw. Erkenntnisprozesse<br />
der Schüler*innen). Ableitung oder Konsequenz<br />
wäre m. E. eine weiterreichende<br />
Mitbestimmung von Pausenzeiten:<br />
● Minimalanspruch: Kinder dürfen<br />
weiterlernen/-arbeiten, wenn sie gerade<br />
nicht in die festgelegte, aber nicht mehr<br />
verpflichtende Pause wollen. Sie werden<br />
nicht „gezwungen, auf dem Pausenhof<br />
zu spielen ([…] bewusst polarisierende<br />
Ausdrücke, um zu zeigen, dass hierarchische<br />
und demokratische Prinzipien<br />
oftmals unbewusst transportiert werden)“<br />
(Peschel 2016: 3).<br />
● Idealanspruch: Es gibt keine speziellen,<br />
allgemein verordneten Pausenzeiten<br />
mehr, sondern Schüler*innen (ob<br />
einzeln oder in Gruppen) machen dann<br />
Pause, wenn sie es benötigen – sei es<br />
physiologisch oder psychosozial – bzw.<br />
es aus Gründen des individuellen Lernbzw.<br />
Erkenntnisprozesses inhaltlich<br />
angebracht ist.<br />
Mit dieser Ideallösung gehen m. E.<br />
neue Schwierigkeiten einher, z. B.:<br />
● Wie werden Lehrer*innenwechsel<br />
zwischen Klassen oder Fächern ermöglicht,<br />
wenn nicht mehr alle Klassen/alle<br />
Schüler*innen gleichzeitig eine Wechselpause<br />
haben?<br />
● Wie lassen sich Fachräume (Sporthalle,<br />
Naturwissenschaftsraum, Musikraum)<br />
nutzen, wenn bislang (auch) aufgrund<br />
eines Raumbedarfs auf Stunden<br />
und damit auf Pausen und Wechsel abgeleitet<br />
wird?<br />
● Wie wird die Aufsicht geregelt, wenn<br />
Schüler*innen individuelle Pausen machen?<br />
● Wo legen sie diese individuellen Pausen<br />
ein?<br />
Diese unvollständige Liste verdeutlicht<br />
m. E. ein Grundproblem der Unterrichts-<br />
und Schulentwicklung: Es lässt<br />
sich schwerlich über Veränderungen isolierter<br />
Aspekte auf einer (hier: rein organisatorischen)<br />
Dimension nachdenken.<br />
Die verschiedenen Dimensionen von<br />
Unterricht (z. B. Organisation, Methode,<br />
Inhalt) stehen immer in Wechselwirkungen<br />
zueinander bzw. mit weiteren Aspekten<br />
des organisierten Lernens. Entscheidungen<br />
bzgl. der Zeitstrukturen wirken<br />
sich auf die methodischen und inhaltlichen<br />
Strukturen des Unterrichts aus (wie<br />
Vignette 1 exemplarisch aufzeigen soll).<br />
Die Frage ist: Geht es auch anders?<br />
Könnte man nicht eine (echte) Angebots-Lehr-Lern-Kultur<br />
5 entwickeln, die<br />
Kinder dann nutzen – z. B. begleitet mit<br />
Beratung von Lehrkräften. Bestandteile<br />
wären flexible, individualisierte Stunden-<br />
oder besser Lernpläne, individuell<br />
verabredete Lernziele und eine Architektur<br />
(vgl. Krawczyk in dieser Zeitschrift),<br />
die gemeinsames sowie individuelles Lernen,<br />
Rückzugsorte und Austauschmöglichkeiten<br />
bietet. Konkretere Vorschläge<br />
und Praxisbeispiele dazu liegen bereits<br />
vor, z. B. in den Bänden 152 (Ursula Carle,<br />
Stefan Kauder, Eva-Maria Osterhues-<br />
Bruns: Schulkulturen in Entwicklung)<br />
oder 153 (Markus Peschel: Didaktik der<br />
Lernkulturen) des Grundschulverbandes.<br />
„Wenn aber nicht mehr das Lehren oder<br />
Unterrichten das zentrale Ziel von Schule<br />
ist, sondern das Lernen der Kinder die Ausbildung<br />
einer neuen Schulkultur bedingt, ist<br />
es erforderlich, sich über Formen der Aneignung<br />
von Kompetenzen auszutauschen<br />
und sich ggf. zu besinnen, wie Kinder, sofern<br />
man sie lässt, lernen“ (Peschel 2021: 22).<br />
Anmerkung<br />
1) Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert<br />
dauerte eine Schulstunde noch 60 Minuten.<br />
Unterricht fand außerdem vormittags und<br />
nachmittags statt, unterbrochen durch eine<br />
dreistündige Pause. Die Verkürzung auf 45<br />
Minuten erließ der Preußische Kultusminister<br />
August von Trott zu Solz 1911. Zum einen<br />
wurden mit dem Erlass zeitaktuelle Erkenntnisse<br />
der experimentellen Psychologie umgesetzt<br />
(die 60-Minuten-Taktung begünstigte<br />
nachweislich die Ermüdung der Schulkinder),<br />
zum anderen erfolgte die Verkürzung<br />
aus Spargründen und in Zusammenhang<br />
mit der Besoldung/Bezahlung der Lehrkräfte<br />
(vgl. Kluth 2018).<br />
2) Im Forschungsprojekt doing AGENCY<br />
wurde die Aushandlung von Selbstbestimmung<br />
beim aufgabenbasierten (Offenen)<br />
Experimentieren untersucht. Dazu wurden<br />
Schulklassenbesuche im Grundschullabor<br />
für Offenes Experimentieren (GOFEX) – sog.<br />
GOFEX-Tage – teilnehmend beobachtet.<br />
Beobachtungsprotokolle wurden anschließend<br />
mittels Grounded Theory Kodierverfahren<br />
ausgewertet (vgl. Strauss & Corbin<br />
1996; Glaser & Strauss 2010; Kihm & Peschel<br />
2017). Ergebnis ist eine Grounded (also in<br />
empirischen Daten gegründete) Theory, die<br />
die soziale Verursachtheit von Selbstbestimmung<br />
erklärt und Selbstbestimmungsaushandlungsprozesse<br />
(das doing AGENCY) als<br />
komplexe Interaktionen zwischen verschiedenen<br />
Akteur*innen (Schüler*innen, Lehrpersonen,<br />
GOFEX-Mitarbeitende) und den<br />
jeweiligen Phänomenen/Sachen im Experimentierprozess<br />
rekonstruiert. Verschiedene<br />
weitere situative Kontextbedingungen beeinflussen<br />
den Aushandlungsprozess, u. a. die<br />
Materialien, der Raum, aber eben auch Zeitstrukturen<br />
der Experimentier-Lehr-Lern-<br />
Situation, wie sie etwa Pausen darstellen.<br />
3) Der beobachtete GOFEX-Tag fand mit<br />
einer dritten Schulklasse zum Thema „Feuer“<br />
statt. Die Namen aller Akteur*innen wurden<br />
pseudonymisiert. Der Titel „Flammensprung“<br />
wird in der Vignette verwendet, um<br />
das entsprechende Phänomen/den Versuch<br />
eindeutig zu bezeichnen: Eine Kerze wird,<br />
nachdem sie einige Minuten gebrannt hat,<br />
mittels Kerzenlöscher erstickt. In den aufsteigenden<br />
Wachsnebel wird ein brennendes<br />
Streichholz gehalten. Eine kleine Flamme<br />
springt vom Streichholz auf den Kerzendocht<br />
über (und bildet sich dort kurz nach dem<br />
Überspringen wieder voll aus) (vgl. Geiss<br />
2017: 53 f.).<br />
Der dreistündige GOFEX-Tag wurde von<br />
Seiten der GOFEX-Mitarbeitenden wie folgt<br />
rhythmisiert: Auf einen gemeinsamen Einstieg<br />
(Demonstrationsexperiment; 30 min)<br />
folgten eine Experimentierphase (30 min)<br />
und eine gemeinsame Pause (15 min). Nach<br />
der Pause fand eine gemeinsame Zwischenreflexion<br />
statt (15 min), auf die eine zweite,<br />
längere Experimentierphase (60 min), das<br />
gemeinsame Aufräumen (10 min) und eine<br />
Abschlussreflexion (20 min) folgten.<br />
4) Aus Platzgründen hier nur verkürzt (und<br />
ohne Analyse bzw. Wertung/Einordnung vor<br />
dem Hintergrund des didaktischen GOFEX-<br />
Konzepts): GOFEX-Mitarbeiter G#1 bespricht<br />
die Versuchsanleitung sukzessive mit<br />
den beiden Schülerinnen und leitet auch die<br />
Umsetzung schrittweise an.<br />
5) Dies meint keine ökonomisierte Vorstellung<br />
von Lehr-Lern-Prozessen, wie sie<br />
im Angebot-Nutzungs-Modell von Helmke<br />
(2017) entwickelt wird und die trotz aller Bemühungen<br />
um Differenzierung doch wieder<br />
allen Schüler*innen ein Angebot macht, das<br />
manche eben besser als andere nutzen (vgl.<br />
zur ausführlichen Kritik am Angebot-Nutzungs-Modell<br />
auch Gruschka 2011).<br />
Literaturangaben zum Artikel können<br />
Sie von unserer Website herunterladen:<br />
https://t1p.de/<strong>GSa163</strong>Lit<br />
8 GS aktuell 163 • September 2023