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„Faule, unartige, widerspenstige und boshafte Kinder“<br />
Henry Tietjen schreibt in seinen Erinnerungen<br />
an seine Schulzeit über seine<br />
Erfahrungen mit Lehrer Meyer (Lehrer<br />
in Bollen vom 01.10.1893 bis 1925): „Damals<br />
hatten die Lehrer noch das Prügelrecht,<br />
von dem der alte grantige Lehrer<br />
kräftig Gebrauch machte. Natürlich<br />
auch, wenn Schüler zu spät kamen. Die<br />
Nachbarskinder versuchten gar nicht<br />
erst, auf ihre Plätze zu kommen. Sie gingen<br />
gleich zum Lehrerpult und bückten<br />
sich. Die Strafe ließen sie ohne Anteilnahme<br />
an sich vorüber gehen, und das<br />
jeden Morgen. Sie hatten gut vorgesorgt<br />
- ihr wertes Hinterteil wurde von einem<br />
Atlas geschont.“<br />
Vereinzelt geschlagen wurde von allen<br />
Bollener Lehrern. Die Erinnerungen<br />
der ehemaligen SchülerInnen sind aber<br />
natürlich bruchstückhaft. Besonders in<br />
Erinnerung geblieben ist vielen der nur<br />
1,56 m große Lehrer Walter Fischer, der<br />
häufig, grob und manchmal unberechenbar<br />
Züchtigungen vornahm. Er wurde auf<br />
Initiative der Bollener Eltern zum 1. April<br />
1960, nach nur knapp zweieinhalb Jahren<br />
Dienstzeit in Bollen versetzt.<br />
Noch am 23.10.1957 entschied der Bundesgerichtshof<br />
über das „Züchtigungsrecht<br />
des Volksschullehrers“, dass die<br />
körperliche Züchtigung der Schüler<br />
durch den Lehrer zwar den Tatbestand<br />
der Körperverletzung nach § 223 des<br />
Strafgesetzbuches erfülle, sie aber nicht<br />
strafbar sei. In der mehr als 20seitigen<br />
Begründung heißt es u.a.: „Frechheiten,<br />
Ungehorsam und vorsätzliche Störungen<br />
des Unterrichts können ein hinreichender<br />
Grund zu körperlicher Züchtigung sein…<br />
Schläge mit dem Rohrstock auf die Hand<br />
oder auf das Gesäß sind die allgemein üblichen<br />
und wegen ihrer Ungefährlichkeit<br />
die zweckmäßigsten Züchtigungsmittel.“<br />
In den weiteren Ausführungen wurden<br />
auch „maßvolle Ohrfeigen“ grundsätzlich<br />
nicht verboten: „Ganz allgemein wird<br />
eine Ohrfeige als minder schwer erachtet<br />
als die Austeilung von Stockschlägen.<br />
Der Grund liegt darin, daß die Ohrfeige<br />
die sofortige Reaktion auf ein fehlerhaftes<br />
Verhalten ist und mehr den Charakter<br />
des „Zur-Besinnung-Bringens“ hat.<br />
Stockschläge sind dagegen Vollzug einer<br />
für eine Verfehlung zudiktierten Strafe.“<br />
Wir können davon ausgehen, dass es<br />
fast in der gesamten Bollener Schulzeit<br />
- mehr als 270 Jahre - körperliche Züchtigungen<br />
mit einem Stock und Schläge<br />
gegen den Kopf („Backpfeifen“, „Ohrfeigen“)<br />
gegeben hat, mal mehr mal<br />
weniger. Wie Johann Dietrich Schierloh<br />
sehr richtig geschrieben hat: Es war<br />
halt der „Zeitgeist“. Fast alle zu diesem<br />
Thema befragten ehemaligen Bollener<br />
Schülerinnen und Schüler wurden auch<br />
im Elternhaus bis in die 60er Jahre geschlagen.<br />
Laut einer Studie Anfang der<br />
60er Jahre war für 98 % der Eltern „körperliche<br />
Züchtigung ein von der Sitte<br />
gebilligtes Zuchtmittel“. 85 % hatten es<br />
bereits eingesetzt, 13 % würden es auch<br />
einsetzen, sahen aber bisher keinen Bedarf.<br />
Lediglich 2 % der Eltern lehnten die<br />
körperliche Züchtigung grundsätzlich<br />
ab. Eine ehemalige Bollener Schülerin<br />
meinte: „Wenn ich mich zu Hause über<br />
das Schlagen des Lehrers in der Schule<br />
beklagte, bekam ich von meinem Vater<br />
noch zusätzliche Schläge.“ Weil der<br />
Vater selbstverständlich davon ausging,<br />
dass die Schläge in jedem Fall ihre Berechtigung<br />
hatten.<br />
Die Bollener Schule wurde am 30. November<br />
1966 geschlossen. Erst Ende der<br />
60er, Anfang der 70er Jahre änderte sich<br />
der Zeitgeist. Die körperliche Züchtigung<br />
an den Schulen in den einzelnen Bundesländern<br />
wurde so nach und nach verbo-