magazin für das leben in lüneburg kostenlos juni - Quadrat
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34 quadrat 06 / 2010 � zurück geblättert<br />
Kapsel enthalte, und er antwortete: „Das ist e<strong>in</strong><br />
Medikament gegen me<strong>in</strong>e Magenkrämpfe.“ Ich<br />
fand noch e<strong>in</strong>e weitere Mess<strong>in</strong>gkapsel, die aber<br />
ke<strong>in</strong> Röhrchen enthielt, und kam zu der Schlussfolgerung,<br />
<strong>das</strong> zweite Röhrchen müsse irgendwo<br />
an der Person des Gefangenen versteckt se<strong>in</strong>.<br />
Nachdem Himmler alle Kleidungsstücke abgelegt<br />
hatte, wurden se<strong>in</strong>e sämtlichen Körperöffnungen<br />
untersucht, auch se<strong>in</strong> Haar durchkämmt und jedes<br />
mögliche Versteck überprüft, doch fand man ke<strong>in</strong>e<br />
Spur e<strong>in</strong>es Glasröhrchens. In diesem Stadium wurde<br />
er nicht aufgefordert, den Mund zu öffnen, da<br />
ich der Me<strong>in</strong>ung war, <strong>das</strong>s falls er <strong>das</strong> Glasröhrchen<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Munde verborgen hielt und wir versuchten,<br />
es zu entfernen, er dadurch zu e<strong>in</strong>er<br />
Handlung veranlasst werden könnte, die wir später<br />
bedauern würden. Ich schickte jedoch nach e<strong>in</strong>em<br />
dicken Brot mit Käse und Tee und bot Himmler<br />
beides an, <strong>in</strong> der Hoffnung, ich würde bemerken,<br />
<strong>das</strong>s er etwas aus se<strong>in</strong>em Munde entfernte. Ich<br />
beobachtete ihn scharf, während er aß, konnte<br />
aber nichts Ungewöhnliches entdecken.“<br />
Am Abend traf Colonel Michael Murphy e<strong>in</strong>; er<br />
sollte den Gefangenen nach Lüneburg br<strong>in</strong>gen. Colonel<br />
Murphy schrieb über die weiteren Ereignisse:<br />
„Mir war klar, <strong>das</strong>s Himmler <strong>das</strong> Gift noch an se<strong>in</strong>em<br />
Körper verborgen haben konnte. Die nächstliegenden<br />
Stellen waren Mund und After, deshalb<br />
sagte ich ihm, er solle sich ausziehen. Ich rief<br />
me<strong>in</strong>en Stellvertreter im Hauptquartier an und befahl,<br />
<strong>das</strong>s sich <strong>in</strong> dem Haus, <strong>das</strong> ich <strong>für</strong> Männer<br />
wie Himmler vorgesehen hatte, e<strong>in</strong> Arzt bereithalten<br />
solle.“ Himmler wurde nun <strong>in</strong> <strong>das</strong> Vernehmungszentrum<br />
<strong>in</strong> Lüneburg, Uelzener Straße 31a,<br />
gebracht. Hier wurde se<strong>in</strong>e Bewachung dem Sergeant-Major<br />
Edw<strong>in</strong> Aust<strong>in</strong> anvertraut.<br />
Noch e<strong>in</strong>mal fl ammte dort der Hochmut <strong>in</strong> He<strong>in</strong>-<br />
rich Himmler auf. Als der Sergeant ihn <strong>in</strong> fl ie-<br />
ßendem Deutsch aufforderte sich auszuziehen, tat<br />
Himmler so, als höre er ihn nicht; als der Sergeant<br />
se<strong>in</strong>en Befehl laut wiederholte, fi xierte er ihn mit<br />
se<strong>in</strong>em Blick. Doch der Soldat hielt diesem stand,<br />
er war sich se<strong>in</strong>er Macht bewusst – Himmler sich<br />
aber nicht se<strong>in</strong>er eigenen Ohnmacht. „Er weiß<br />
nicht, wer ich b<strong>in</strong>“, sagte der e<strong>in</strong>stige Reichsführer<br />
entrüstet. Auch davon ließ sich der Sergeant<br />
nicht bee<strong>in</strong>drucken. „Doch, ich weiß es“, sagte er,<br />
Himmler weiter mit dem Blick fi xierend, „Sie s<strong>in</strong>d<br />
He<strong>in</strong>rich Himmler.“ Himmlers Blick, e<strong>in</strong>st dem<br />
todbr<strong>in</strong>genden Blick e<strong>in</strong>es Basilisken gleich, hatte<br />
se<strong>in</strong>e Macht verloren. Er war es, der die Augen nie-<br />
derschlug. Dann entkleidete er sich.<br />
Vermutlich wurde Himmler sich <strong>in</strong> diesem Augenblick<br />
darüber bewusst, <strong>das</strong>s es ke<strong>in</strong> Ausweichen<br />
vor dem Schicksal mehr gab. In diesem Moment<br />
IN EINEM KLEINEN GEHÖLZ AM SÜDLICHEN LÜNEBURGER STADTRAND GRUB<br />
AUSTIN EINE GRUBE UND LEGTE HIMMLER HINEIN.<br />
muss er gewusst haben, <strong>das</strong>s ihn nur noch der<br />
Freitod vor dem Galgen retten konnte. Er hatte<br />
ausgespielt. Der Mann, der sich immer damit brüstete,<br />
„stahlhart und blitzschnell“ zu entscheiden,<br />
der <strong>in</strong> Wahrheit e<strong>in</strong> Zögerer und Phantast war, der<br />
sich stets vor den Anforderungen der Pfl icht und<br />
des Gewissens <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e irrationale Welt zurückzog,<br />
war von der Wahrheit e<strong>in</strong>geholt und gestellt worden.<br />
Die Zeit des Zögerns und Verschiebens war<br />
vorbei.<br />
Der Militärarzt C. J. L. Wells suchte an Himmler<br />
die vermutete Giftampulle. Schließlich befahl er<br />
ihm, den Mund zu öffnen. Er tat es, und der Arzt<br />
schob ihm zwei F<strong>in</strong>ger zwischen die Zähne. In die-<br />
< Er entzog sich der Verantwortung: Himmler nach<br />
se<strong>in</strong>em Freitod auf dem Boden der Veranda <strong>in</strong> der<br />
Uelzener Straße 31 a.<br />
sem Augenblick biss Himmler zu, biss <strong>in</strong> die F<strong>in</strong>ger<br />
des Arztes, aber auch auf e<strong>in</strong>e gläserne Ampulle,<br />
die er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zahnlücke des rechten Unterkiefers<br />
versteckt gehalten hatte.<br />
„Er hat es geschafft!“ schrie der Arzt und warf den<br />
zu Boden s<strong>in</strong>kenden Himmler auf den Bauch, griff<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Mund und versuchte, ihn am Schlucken<br />
zu h<strong>in</strong>dern. Dann wurde ihm der Magen ausgepumpt.<br />
Doch jede Hilfe kam zu spät – nach e<strong>in</strong>em<br />
viertelstündigen Kampf um se<strong>in</strong> Leben war Himmler<br />
tot.<br />
Um sicher zu gehen, <strong>das</strong>s der Tote auch wirklich<br />
der ehemalige Reichsführer SS war, nahmen auf<br />
Geheiß der Engländer die Lüneburger Krim<strong>in</strong>albeamten<br />
Musgiller und Wichmann F<strong>in</strong>gerabdrücke<br />
von der Leiche. Der Lüneburger Arzt Dr. Rudolph<br />
Reedepenn<strong>in</strong>g besche<strong>in</strong>igte schließlich Himmlers<br />
Tod.<br />
Zwei Tage später, es war der 25. Mai, wickelte Sergeant-Major<br />
Aust<strong>in</strong> Betttücher und e<strong>in</strong> Tarnnetz<br />
mit Telefondraht um Himmlers Leichnam und<br />
schleppte <strong>das</strong> Bündel auf e<strong>in</strong>en Lastwagen. Dann<br />
fuhr der Sergeant, der im Zivilberuf Müllkutscher<br />
war, die Leiche auf e<strong>in</strong>en Acker am südlichen<br />
Lüneburger Stadtrand. In e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Gehölz<br />
grub Aust<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Grube, legte Himmler h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> und<br />
bedeckte die Vertiefung mit Erde. Da lag er nun,<br />
der Millionen von Menschen <strong>in</strong> anonyme Massengräber<br />
geschickt hatte, begraben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Grab<br />
ohne Namensschild, verscharrt wie e<strong>in</strong> Hund.<br />
Bald wird wieder zum Tanz gebeten, auf der Veranda<br />
des Hauses Uelzener Straße 31 a. An den Massenmörder<br />
Himmler denkt hier ke<strong>in</strong>er mehr. 65<br />
Jahre ist es her, <strong>das</strong>s der Mann, der Schrecken,<br />
Tod und Terror verkörperte wie ke<strong>in</strong> zweiter <strong>in</strong><br />
Deutschland, auf die Giftkapsel biss und sich aus<br />
der Verantwortung schlich. 65 Jahre – mancher<br />
der Senioren war zur der Zeit noch nicht e<strong>in</strong>mal<br />
geboren, andere waren K<strong>in</strong>der. Und wieder ist<br />
Frühl<strong>in</strong>g, im Kurpark blühen die Blumen. Terror,<br />
Tod und Untergang s<strong>in</strong>d endgültig verweht. (ab)<br />
FOTO: IWMCOLLECTIONS IWM PHOTO NO.: BU 6738 / WIKIMEDIA COMMONS