Industriemagazin Oktober/2008.
Industriemagazin Oktober/2008.
Industriemagazin Oktober/2008.
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
LEITARTIKEL<br />
MEINUNG<br />
„Die Vorgaukelung einer problemfreien Realität rächte sich …<br />
die Diskrepanz zwischen Worten und Taten erzeugte Passivität<br />
und Skepsis gegenüber verkündeten Parolen.“<br />
Michail Gorbatschow<br />
Die Wahlschlacht ist geschlagen. Die großen Fragen aber harren<br />
nach wie vor klarer Antworten. US-Finanzminister Henry<br />
Paulson ist dabei, einen – noch nicht unterschriebenen – Blankoscheck<br />
für einen 700 Milliarden-Dollar-Junk-Fonds einzulösen.<br />
Ähnliches wird auch auf die EU zukommen. Ein tiefgreifender<br />
Wandel des neoliberalen Systems ist im Gange. Dieser erinnert verblüffend<br />
an jenen des realsozialistischen Systems vor 20 Jahren.<br />
Ab Beginn der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zeigten<br />
sich in der UdSSR schwere Verfallserscheinungen. Der militärische<br />
Wettbewerb mit den westlichen Staaten laugte die marode Wirtschaft<br />
aus und führte zu einer zunehmenden Unruhe der Bürger. 1986<br />
ereignete sich überdies in der Ukraine die Katastrophe von Tschernobyl<br />
und offenbarte damit auch die ökologische Insuffi zienz des<br />
realsozialistischen Systems. 1987 kündigte Michail Gorbatschow,<br />
„ Nicht<br />
Glasnost und Perestroika<br />
KLAUS WOLTRON Ausufernde Spekulation und Betrug sind nur zwei Aspekte<br />
des Neoliberalismus, die ihn selbst unterminieren. Die Ursachen<br />
der aktuellen Krise liegen tiefer.<br />
die Zeichen der Zeit zweckoptimistisch deutend, Glasnost (Offenheit)<br />
und Perestroika (Umbau) an. Vier Jahre danach krachte das Riesenreich<br />
dennoch zusammen. Das globale Gleichgewicht verschob<br />
sich in Richtung Neoliberalismus und Globalisierung. Linke und<br />
Rechte des politischen Spektrums hatten einander als jeweilige<br />
Wurzel aller Übel verloren.<br />
Nach einer kurzen Phase der Euphorie zeigt sich, dass die Welt<br />
wiederum riesigen Problemen gegenübersteht. Erneut bilden sich –<br />
diesmal noch ohne scharfe Entsprechung auf der Landkarte – zwei<br />
Lager: Anhänger und Gegner des Neoliberalismus. Die allermeisten<br />
von dessen jüngst zu Tage tretenden Verwerfungen (Finanzkrisen,<br />
ökologische und soziale Verfallserscheinungen etc.) sind allerdings<br />
nicht neu, nur ausgeprägter. Der geschichtliche Hauptgrund dafür<br />
ist evident: Um 1800 überschritt die Weltbevölkerung eine Milliarde<br />
Menschen, ein rapides Bevölkerungswachstum setzte ein. Im<br />
20. Jahrhunderts hat sich die Weltbevölkerung dann fast vervierfacht.<br />
1974: 4 Milliarden, 1987: 5 Milliarden und 1999: 6 Milliarden Menschen.<br />
Die 7-Milliarden-Marke wird voraussichtlich im Jahr 2012<br />
erreicht. Ich selbst war 1960 15 Jahre alt – seitdem hat sich die<br />
Weltbevölkerung mehr als verdoppelt. Dies alles geht mit einer<br />
Reihe von weiteren, tiefgreifenden Entwicklungen einher, die ei-<br />
nander überlagern und potenzieren. Das Geschehen an den Börsen<br />
ist so massiv, dass sowohl Glasnost als auch – hoffentlich – Perestroika<br />
angesagt sind.<br />
Für die Eindämmung der Spekulation gibt es eine Reihe von<br />
aussichtsreichen Abhilfen:<br />
� Verbindliche Aktien-Behaltefristen<br />
� Kapitaltransfersteuer (Tobin-Tax) oder ähnliche Systeme, die die<br />
schnelle Umschichtung von Kapital zu reinen Spekulationszwecken<br />
stark bremsen<br />
� Regulierung von Hochrisikofonds<br />
� Kapitalimport-Regelsysteme<br />
� Teilweise Bindung der Managergratifi kationen an mitarbeiter- und<br />
umweltspezifi sche Zielsetzungen<br />
� Verbindliche Defi nition und Aktualisierung der Codes of Conduct<br />
der Unternehmen und Integration in die Managementverantwortung<br />
� Limitierung des Volumens an spekulativen Veranlagungsformen<br />
für produzierende Unternehmen<br />
� Scharfe Ratingkontrollen<br />
nur äußere Eingriffe, sondern neue innere Mechanismen müssen<br />
den wildgewordenen Besen wieder in die Ecke treiben.<br />
“<br />
Ausufernde Spekulation und Betrug sind jedoch nur zwei Aspekte<br />
des Neoliberalismus, die ihn selbst unterminieren. Die Wurzeln der<br />
Krise liegen viel tiefer: Menschliche Urtriebe, kombiniert mit einer<br />
geschichtlich einmaligen mengenmäßigen Vermehrung einer einzigen<br />
Spezies auf der Erde. Es ist paradox: Neoliberalismus, Globalisierung<br />
und die damit verbundenen erwünschten und unbeabsichtigten<br />
Effekte mussten zwangsläufi g, parallel zur zahlenmäßigen Entwicklung<br />
der Menschheit und der Technologierevolution, eintreten, sollten<br />
nicht Millionen Menschen in Krankheit, Armut und Elend dahinvegetieren.<br />
Bis jetzt hat dieses gewaltige Ausbeutungssystem natürlicher<br />
Ressourcen einigermaßen funktioniert. Es stößt aber offensichtlich<br />
immer mehr und immer heftiger an Grenzen, die es mit seinen<br />
bisherigen Mechanismen nicht bewältigen wird können.<br />
Die Kernfrage lautet daher: Welche zusätzlichen Ziel- und Steuerungsgrößen<br />
müssen in das Werte- und Wirtschaftssystem eingebaut<br />
werden, um es in einem neuen Fließgleichgewicht zu stabilisieren?<br />
Nicht nur äußere Eingriffe, sondern neue innere,<br />
selbstregelnde kybernetische Mechanismen müssen den wildgewordenen<br />
Besen wieder in die Ecke treiben. Wie diese im Detail<br />
aussehen sollen und ob sie durchsetzbar sein werden, wird uns<br />
wohl noch lange beschäftigen. �<br />
12 10/<strong>Oktober</strong> 2008 INDUSTRIEMAGAZIN