Sexuell grenzverletzende Kinder â Praxisansätze und ihre ...
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entweder körperlich aggressiv gegenüber seinen Peers oder vollkommen<br />
zurückgezogen. Er war als Kind von seiner Mutter <strong>und</strong> seinem Vater vernachlässigt<br />
worden <strong>und</strong> lebte über viele Jahre abwechselnd in verschiedenen<br />
Pflegeverhältnissen. Immer wieder wurde er wieder bei seiner Mutter untergebracht,<br />
um schließlich wieder herausgenommen zu werden, weil sie <strong>ihre</strong><br />
Alkohol- <strong>und</strong> Drogenprobleme nicht in den Griff bekam. Jim wurde von<br />
seiner Mutter emotional <strong>und</strong> körperlich vernachlässigt <strong>und</strong> er wurde häufig<br />
für längere Zeiten alleine gelassen, wenn seine Mutter bei Saufgelagen oder<br />
Drogenexzessen war. In den letzten vier Pflegeeinrichtungen war Jim durch<br />
sexuell reaktive Verhaltensweisen mit anderen <strong>Kinder</strong>n aufgefallen. Wenn<br />
sie erwischt wurden, wurden sie bestraft. In einer Einrichtung wurden Jims<br />
Hände an die Bettkanten gefesselt, um ihn daran zu hindern zu masturbieren,<br />
bevor er einschlief.<br />
Als die beiden Jungen zu dem Vorfall mit der Gleitcreme im Badezimmer<br />
befragt wurden, sagten beide, dass es die Idee des jeweils anderen<br />
war. Sie gaben zu, dass sie es beide wollten <strong>und</strong> dass sie nicht dazu gezwungen<br />
worden waren. Beide sagten, dass sie sich durch die sexuellen<br />
Handlungen wohler fühlten. Dem 11-jährigen Jim wurde nicht geglaubt <strong>und</strong><br />
es entstand der Eindruck, dass John zum Stillhalten gezwungen war. Jim<br />
wurde in einem Programm für sexuell übergriffige <strong>Kinder</strong> untergebracht.<br />
Über ihn wurde noch bekannt, dass die einzige als subjektiv wohltuend<br />
empf<strong>und</strong>ene Beziehung, die er jemals hatte, zu einem erwachsenen Nachbarn<br />
bestanden hatte, der ihn sexuell missbrauchte, als er wieder einmal in<br />
einer Pflegefamilie untergebracht war.<br />
In dieser Fallgeschichte sind viele Aspekte vereint, anhand derer die besonderen<br />
Schwierigkeiten des stationären Jugendhilfekontextes im Umgang<br />
mit sexualisierten Verhaltensweisen von <strong>Kinder</strong>n sichtbar werden. Diese<br />
haben unter anderem zu tun mit den zum Teil extrem belastenden Vorgeschichten<br />
der <strong>Kinder</strong>, mit der komplexen Funktion sexuellen Verhaltens,<br />
mit der Gefahr der Reviktimisierung, mit den Schwierigkeiten der Unterscheidung<br />
zwischen einvernehmlichen <strong>und</strong> schädigenden Handlungen<br />
(wobei eben nicht per se davon ausgegangen werden kann, dass einvernehmliche<br />
Handlungen keine Schädigungen nach sich ziehen) <strong>und</strong> den<br />
rechtlichen Rahmenbedingungen, innerhalb derer diese Aktivitäten stattfinden.<br />
<strong>Sexuell</strong>e Gewalt in Institutionen ist in letzter Zeit auch in Deutschland<br />
zunehmend in den Fokus der öffentlichen <strong>und</strong> wissenschaftlichen<br />
Aufmerksamkeit geraten (UBSKM, 2011). Die damit zusammenhängende<br />
Diskussion hat sich hauptsächlich auf sexuellen Missbrauch durch erwachsene<br />
Mitarbeiter von Einrichtungen gegen betreute <strong>Kinder</strong> <strong>und</strong> Jugendliche<br />
konzentriert (B<strong>und</strong>schuh, 2011). Die von Helming et al. (2011) durchgeführte<br />
breit angelegte Institutionenbefragung lieferte aber deutliche Hinweise<br />
darauf, dass <strong>Kinder</strong> im institutionellen Kontext in höherem Ausmaß<br />
durch andere <strong>Kinder</strong> <strong>und</strong> Jugendliche gefährdet sind als durch Erwachsene:<br />
„Das Ausmaß, in dem die befragten Institutionen mit sexueller Gewalt von<br />
<strong>Kinder</strong>n bzw. Jugendlichen an anderen <strong>Kinder</strong>n <strong>und</strong> Jugendlichen konfrontiert<br />
waren, übersteigt den Verdacht auf Missbrauch durch Personal bei<br />
weitem. Jede sechste Schule, jedes vierte Internat <strong>und</strong> mehr als jedes dritte<br />
Heim hatte in den letzten Jahren mindestens einen solchen Verdachtsfall.“<br />
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