Nr. 34, Mai - DS-InfoCenter
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E R F A H R U N G S B E R I C H T<br />
nimmst du eigentlich den Gang nicht<br />
raus?” Klar sprang der Motor dann sofort<br />
an. Ich fragte ihn: “Chris, möchtest<br />
du den Wagen mal fahren?” Er war sich<br />
nicht sicher, was er sagen sollte. “Hm,<br />
na ja, lass mich mal versuchen.” So<br />
wechselten wir die Plätze und obwohl<br />
niemand in unserer Familie ihm je beigebracht<br />
hatte, wie man einen Wagen in<br />
Betrieb setzt, war Chris imstande, das<br />
Auto zu starten, den Vorwärtsgang einzulegen<br />
und dann langsam wegzufahren.<br />
Er wusste genau, mit welchem Fuß<br />
das Gaspedal und die Bremse zu bedienen<br />
und wie der Wagen zu lenken war.<br />
Er war über Jahre so aufmerksam gewesen<br />
und hatte in seinem visuellen<br />
Gedächtnis die verschiedenen Schritte,<br />
wie man ein Auto fährt, gespeichert.<br />
Diese und ähnliche Beobachtungen<br />
zeigten, dass Chris sehr aufmerksam<br />
beobachtete und dass seine visuellen<br />
Lernfähigkeiten gegenüber seinen anderen<br />
Fähigkeiten auffallend gut entwickelt<br />
waren.<br />
Arbeit in der Werkstatt<br />
Leider gab es Zeiten, in denen Chris seine<br />
Fähigkeiten und sein Talent nicht<br />
brauchen konnte. Während Chris in einer<br />
beschützten Werkstatt arbeitete,<br />
wurde er oft mit langweiligen und eintönigen<br />
Arbeiten beschäftigt. Dennoch<br />
war er ein sehr guter Arbeiter und trotz<br />
eines hinderlichen Zitterns seiner Hände<br />
war er sehr genau und akkurat in seiner<br />
Arbeit. Wenn besondere Aufgaben<br />
ausgeführt werden sollten, war Chris oft<br />
derjenige, der damit beauftragt wurde.<br />
32 Leben mit Down-Syndrom <strong>Nr</strong>. <strong>34</strong>, <strong>Mai</strong> 2000<br />
Er war äußerst zuverlässig, glaubwürdig<br />
und wurde von seinen Mitarbeitern<br />
und Vorgesetzten sehr geschätzt.<br />
Chris und seine Geschwister<br />
Chris war mit seinem älteren Bruder Sigi<br />
und mit den Schwestern Pamela und<br />
Jeanette eng verbunden, sie verstanden<br />
sich prima. Sie wuchsen einträchtig<br />
zusammen auf und lehrten sich gegenseitig<br />
die wichtigen Dinge des Lebens.<br />
Sein Bruder und seine Schwestern<br />
halfen Chris bei der intellektuellen<br />
Entwicklung, beim Sprechenlernen und<br />
beim Selbstständigwerden. Chris dage-<br />
Vater und Sohn, ein<br />
Herz und eine Seele<br />
gen lehrte seine Geschwister, den anderen<br />
gegenüber toleranter zu sein, die<br />
Unterschiede der Menschen zu akzeptieren<br />
und zu respektieren und noch vieles<br />
mehr. Wenn ich zurückdenke an die<br />
ersten Kindheitsjahre, hatten unsere<br />
Kinder viel Spaß beim Spielen miteinander<br />
und genossen das Leben in vollen<br />
Zügen.<br />
Chris rief oft seinen Bruder Sigi,<br />
wenn der Fernsehapparat oder der Videorekorder<br />
einzustellen waren. Er<br />
nannte ihn zärtlich “Sigily”. Er liebte<br />
besonders seine jüngere Schwester Jeanette,<br />
die er “Jackson” taufte. Auch<br />
“Pamie” hatte er sehr gern und er war<br />
oft besorgt um sie, als sie schwanger<br />
war und er dauernd fragte: “Geht es Pamie<br />
gut?” Er liebte seine Geschwister<br />
sehr.<br />
Vor einiger Zeit schrieben Sigi, Pamela<br />
und Jeanette eine kleine Broschüre<br />
mit dem Titel “Chris … unser Bruder”.<br />
Darin beschreiben sie lebendig ih-<br />
re Gefühle der Zuneigung und der Liebe<br />
gegenüber diesem besonderen Bruder.<br />
Dieses kleine Buch spricht Bände über<br />
ihre herzliche Beziehung zueinander<br />
und die wunderbare Kameradschaft.<br />
Chris und seine Mutter<br />
Chris hatte eine besondere Beziehung<br />
zu seiner Mutter. Sie war wirklich eine<br />
treu sorgende Person, die ihre ganze<br />
Liebe Chris gab, der es sehr genoss, von<br />
seiner Mutter geherzt und geliebkost zu<br />
werden und gern mit ihr schmuste. Sie<br />
genossen es, zusammen zu sein. Eines<br />
Tages, als Chris mit seiner Mutter im<br />
Auto saß, fragte sie: “Chris, kannst du<br />
den Wagen fahren?” Obwohl er das<br />
konnte, antwortete er: “Ich kann nicht,<br />
meine Füße sind zu kurz.” Er meinte<br />
damit, dass er die Kupplung und das<br />
Gaspedal mit seinen Füßen nicht erreichen<br />
konnte. Von da an nahm der Begriff<br />
“Kurzfuß” eine besondere Bedeutung<br />
an. Wenn er liebevoll zu seiner<br />
Mutter sagte: “Du bist mein Kurzfuß”,<br />
meinte er damit: “Ich liebe dich so sehr,<br />
mehr als jeden anderen auf der Welt.“<br />
Ungefähr vor zehn Jahren, am Muttertag,<br />
schenkte Chris seiner Mutter eine<br />
Zeichnung mit einer hell strahlenden<br />
Sonne und einer schönen Blume und<br />
schrieb daneben: “Für Mama: Du bist so<br />
schön wie eine Blume an einem sonnigen<br />
Tag.” Damit hatte er wirklich Recht.<br />
Als meine Frau schon längere Zeit<br />
tot war, kam Chris oft weinend zu mir:<br />
“Ich vermisse meine Mutter so sehr”,<br />
dann umarmten wir uns und weinten<br />
beide. Manchmal wachte Chris morgens<br />
auf und sagte: “Ich habe von meiner<br />
Mutter geträumt, ich sah sie in der<br />
Küche und gab ihr viele Küsse.” Er liebte<br />
sie so sehr, mehr als man in Worten<br />
ausdrücken kann.<br />
Was Chris mich lehrte<br />
Ich möchte auch kurz beschreiben, was<br />
Chris mir bedeutete. Obwohl ich mich<br />
schon vor seiner Geburt mit Down-Syndrom<br />
beschäftigte, bestimmte er zweifellos<br />
die Richtung meiner Berufskarriere<br />
und mein ganzes weiteres Leben. Seit<br />
dem Tod meiner Frau war Chris mein<br />
Leben.<br />
Chris war ein prächtiger Lehrer. Er<br />
lehrte mich, dass Menschen mit Down-<br />
Syndrom trotz ihrer begrenzten Fähigkeiten<br />
für theoretische Leistungen Individuen<br />
sind. Er lehrte mich, dass eine<br />
IQ-Punktzahl kein Maßstab für mensch-