Spielzeitheft 2011/12 - Theater Ingolstadt
Spielzeitheft 2011/12 - Theater Ingolstadt
Spielzeitheft 2011/12 - Theater Ingolstadt
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
278 279<br />
Marieluisefleißerausingolstadt<br />
Claudio Magris<br />
Marieluisefleißerausingolstadt<br />
Wie der Name der mittelalterlichen Chronisten wird auch der<br />
der kraftvollen Schriftstellerin immer zusammen mit ihrer<br />
Geburtsstadt genannt, fast als handele es sich um ein einziges<br />
Wort. Marieluisefleißerausingolstadt ist sicherlich auf eine<br />
ebenso profunde wie polemische Weise in ihrer bayrischen<br />
Heimatstadt verwurzelt, deren militärischen Stolz die Überlieferung<br />
rühmt, die Virginität der häufig belagerten, aber nie<br />
eroberten Bergfestung, von der heute die berühmte Erdölleitung<br />
nach Triest ihren Ausgang nimmt.<br />
<strong>Ingolstadt</strong> ist eine Stadt mit militärischer Tradition, von dem<br />
Überfall Gustav Adolfs 1632 bis zum Tode Tillys, des großen<br />
Reichs feldmarschalls im Dreißigjährigen Krieg, von der berühmten<br />
Festung, in der während des Ersten Weltkriegs de Gaulle<br />
und der Marschall Tuchatschewski gefangengehalten wurden,<br />
bis zur berühmten gegenwärtigen Pionierschule. Den »Pionieren<br />
von <strong>Ingolstadt</strong>« ist jenes große, 1928 bis 1929 geschriebene –<br />
und 1968 nochmals überarbeitete – Drama gewidmet, das seinerzeit<br />
einen großen Skandal auslöste und Marieluise Fleißer – wie<br />
es häufig mit Autoren geschieht, die ungeschminkt die Provinzwelt<br />
darstellen – Ablehnung, Schmähungen, Verunglimpfungen<br />
seitens der öffentlichen Kleinstadtmeinung eintrugen.<br />
Wie das andere und noch bedeutendere Drama, »Fegefeuer<br />
in <strong>Ingolstadt</strong>« und wie ihr Werk überhaupt zeigt »Pioniere<br />
in <strong>Ingolstadt</strong>« mit lakonischer Eindringlichkeit die erstickende<br />
Gewalt der Provinz, das soziale und kreatürliche Leiden des<br />
einzelnen und insbesondere der Frau, deren Schmerzensschreie<br />
und Proteste ständig in den Texten der Autorin anklingen;<br />
eine Stimme der Auflehnung, manchmal heiser wie die<br />
der Möwen, die über den Fluss und durch die Dunkelheit dieses<br />
Abends streifen.<br />
Marieluise Fleißer, die Bruno Frank als »die Frau von schönstem<br />
Busen Mitteleuropas« definierte, hat die demütigende<br />
Situation der unterdrückten Frau gelebt und zugleich repräsentiert,<br />
sie hat jene Situation der Gewalt selbst erlitten, sie hat<br />
auf widersprüchliche und pathetische Weise dagegen aufbegehrt<br />
und hat sie in der Epizität ihrer dichterischen Gestaltung<br />
überwunden. Sie hat sich in leidenschaftlicher Unmittelbarkeit<br />
mit der weiblichen Unterordnung identifiziert, so weit und so<br />
vollständig, dass sie Gefahr lief, selbst darin umzukommen, und<br />
sie hat sich gleichzeitig darüber erhoben, indem sie ihr in ihrem<br />
Werk eine feste und objektive Form zu geben vermochte. Ihr<br />
Stil – insbesondere der ihrer <strong>Theater</strong>stücke – ist von nüchtern<br />
realistischer Genauigkeit, er verbindet lebensvollen plebejischen<br />
Naturalismus mit visionärer Kraft. Brecht, der sie in die<br />
lärmende Berliner Welt einführte und sie berühmt machte,<br />
erkannte in ihr zu Recht eine Vertreterin jener realitätsnahen<br />
und gegen realistische Plattheiten oder folkloristische Töne<br />
gefeiten Volksliteratur, die ihm als die einzige der deutschen<br />
Situation angemessene Literatur erschien; ebendiese Eigenschaften<br />
haben nach langen Jahren der Vergessenheit zu einer<br />
Wiederentdeckung der Fleißer geführt.<br />
Die Begegnung mit Brecht war für die Schriftstellerin<br />
inte llektuell ein Glücksfall und wahrscheinlich existentielles<br />
Unglück. In ihrer Liebesbeziehung zu Brecht, deren Aufl ösung<br />
sie als dringende Notwendigkeit empfand, erlebte und erlitt<br />
Marieluise Fleißer jene männliche Überheblichkeit, jene weibliche<br />
Unterwürfigkeit, die sie in ihrer Dichtung angeklagt<br />
hat: jene erzwungene Mischung aus Mitarbeit und Unterwerfung,<br />
Kultur und Sexualität, leidenschaftlicher Hingabe und<br />
leidenschaftlicher Revolte, welche die Gleichheit ausschließt<br />
und von vorneherein, wenn auch unter zornigen Protesten, die<br />
Schicksalhaftigkeit männlicher Gewalt über die Frau akzeptiert.<br />
Brecht, schrieb die Fleißer, verschliss die Personen; sie selbst<br />
entging jener Rolle eines Konsumobjektes nicht.<br />
Wie ihre Berta in »Pioniere in <strong>Ingolstadt</strong>« war Marieluise<br />
Fleißer ein Opfer, das an seinem unglückseligen Schicksal<br />
mit wirkt, indem es seine untergeordnete Rolle für unabänderlich<br />
hält, sie verinnerlicht und sie vor allem durch ihr eigenes<br />
Verhalten autorisiert. In ihrer Beziehung zu Brecht und zu<br />
Claudio Magris