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Spielzeitheft 2011/12 - Theater Ingolstadt

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Marieluisefleißerausingolstadt<br />

Claudio Magris<br />

Marieluisefleißerausingolstadt<br />

Wie der Name der mittelalterlichen Chronisten wird auch der<br />

der kraftvollen Schriftstellerin immer zusammen mit ihrer<br />

Geburtsstadt genannt, fast als handele es sich um ein einziges<br />

Wort. Marieluisefleißerausingolstadt ist sicherlich auf eine<br />

ebenso profunde wie polemische Weise in ihrer bayrischen<br />

Heimatstadt verwurzelt, deren militärischen Stolz die Überlieferung<br />

rühmt, die Virginität der häufig belagerten, aber nie<br />

eroberten Bergfestung, von der heute die berühmte Erdölleitung<br />

nach Triest ihren Ausgang nimmt.<br />

<strong>Ingolstadt</strong> ist eine Stadt mit militärischer Tradition, von dem<br />

Überfall Gustav Adolfs 1632 bis zum Tode Tillys, des großen<br />

Reichs feldmarschalls im Dreißigjährigen Krieg, von der berühmten<br />

Festung, in der während des Ersten Weltkriegs de Gaulle<br />

und der Marschall Tuchatschewski gefangengehalten wurden,<br />

bis zur berühmten gegenwärtigen Pionierschule. Den »Pionieren<br />

von <strong>Ingolstadt</strong>« ist jenes große, 1928 bis 1929 geschriebene –<br />

und 1968 nochmals überarbeitete – Drama gewidmet, das seinerzeit<br />

einen großen Skandal auslöste und Marieluise Fleißer – wie<br />

es häufig mit Autoren geschieht, die ungeschminkt die Provinzwelt<br />

darstellen – Ablehnung, Schmähungen, Verunglimpfungen<br />

seitens der öffentlichen Kleinstadtmeinung eintrugen.<br />

Wie das andere und noch bedeutendere Drama, »Fegefeuer<br />

in <strong>Ingolstadt</strong>« und wie ihr Werk überhaupt zeigt »Pioniere<br />

in <strong>Ingolstadt</strong>« mit lakonischer Eindringlichkeit die erstickende<br />

Gewalt der Provinz, das soziale und kreatürliche Leiden des<br />

einzelnen und insbesondere der Frau, deren Schmerzensschreie<br />

und Proteste ständig in den Texten der Autorin anklingen;<br />

eine Stimme der Auflehnung, manchmal heiser wie die<br />

der Möwen, die über den Fluss und durch die Dunkelheit dieses<br />

Abends streifen.<br />

Marieluise Fleißer, die Bruno Frank als »die Frau von schönstem<br />

Busen Mitteleuropas« definierte, hat die demütigende<br />

Situation der unterdrückten Frau gelebt und zugleich repräsentiert,<br />

sie hat jene Situation der Gewalt selbst erlitten, sie hat<br />

auf widersprüchliche und pathetische Weise dagegen aufbegehrt<br />

und hat sie in der Epizität ihrer dichterischen Gestaltung<br />

überwunden. Sie hat sich in leidenschaftlicher Unmittelbarkeit<br />

mit der weiblichen Unterordnung identifiziert, so weit und so<br />

vollständig, dass sie Gefahr lief, selbst darin umzukommen, und<br />

sie hat sich gleichzeitig darüber erhoben, indem sie ihr in ihrem<br />

Werk eine feste und objektive Form zu geben vermochte. Ihr<br />

Stil – insbesondere der ihrer <strong>Theater</strong>stücke – ist von nüchtern<br />

realistischer Genauigkeit, er verbindet lebensvollen plebejischen<br />

Naturalismus mit visionärer Kraft. Brecht, der sie in die<br />

lärmende Berliner Welt einführte und sie berühmt machte,<br />

erkannte in ihr zu Recht eine Vertreterin jener realitätsnahen<br />

und gegen realistische Plattheiten oder folkloristische Töne<br />

gefeiten Volksliteratur, die ihm als die einzige der deutschen<br />

Situation angemessene Literatur erschien; ebendiese Eigenschaften<br />

haben nach langen Jahren der Vergessenheit zu einer<br />

Wiederentdeckung der Fleißer geführt.<br />

Die Begegnung mit Brecht war für die Schriftstellerin<br />

inte llektuell ein Glücksfall und wahrscheinlich existentielles<br />

Unglück. In ihrer Liebesbeziehung zu Brecht, deren Aufl ösung<br />

sie als dringende Notwendigkeit empfand, erlebte und erlitt<br />

Marieluise Fleißer jene männliche Überheblichkeit, jene weibliche<br />

Unterwürfigkeit, die sie in ihrer Dichtung angeklagt<br />

hat: jene erzwungene Mischung aus Mitarbeit und Unterwerfung,<br />

Kultur und Sexualität, leidenschaftlicher Hingabe und<br />

leidenschaftlicher Revolte, welche die Gleichheit ausschließt<br />

und von vorneherein, wenn auch unter zornigen Protesten, die<br />

Schicksalhaftigkeit männlicher Gewalt über die Frau akzeptiert.<br />

Brecht, schrieb die Fleißer, verschliss die Personen; sie selbst<br />

entging jener Rolle eines Konsumobjektes nicht.<br />

Wie ihre Berta in »Pioniere in <strong>Ingolstadt</strong>« war Marieluise<br />

Fleißer ein Opfer, das an seinem unglückseligen Schicksal<br />

mit wirkt, indem es seine untergeordnete Rolle für unabänderlich<br />

hält, sie verinnerlicht und sie vor allem durch ihr eigenes<br />

Verhalten autorisiert. In ihrer Beziehung zu Brecht und zu<br />

Claudio Magris

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