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Leuchtturm Nr. 128<br />
es wichtig ist, dieses und jenes zu verstehen, nicht bloß<br />
sich darauf zu verstehen, einen Suchbefehl zu platzieren.<br />
Der Pädagoge gerät mehr und mehr in die Rolle des<br />
Moderators?<br />
Es gibt wundersame Begriffsveränderungen. Erziehen<br />
ist ein mühseliges Geschäft. Das weiß jede Mutter und<br />
jeder Vater. Lehrer haben es noch ein bisschen schwieriger,<br />
weil sie nicht nur ein Kind vor der Nase haben, sondern<br />
gleich dreißig oder mehr. Aber Lehrkräfte sollen<br />
nicht mehr erziehen. Sie sind jetzt „Classroom-Manager“.<br />
Mit Schülern hat das begrifflich schon nichts mehr zu tun,<br />
denn Lehrer sind jetzt Raumpfleger. Sie gestalten und<br />
pflegen „Lernlandschaften“, in denen sich die Kinder<br />
selbstständig tummeln und bewegen. Sie haben mit den<br />
schmuddeligen Aufgaben des Erziehens nichts mehr zu<br />
tun. Das ist natürlich sehr verführerisch, allerdings nur<br />
für die, die eigentlich mit der Pädagogik nichts zu schaffen<br />
haben wollen.<br />
Was müsste die Politik also tun?<br />
Nicht wenigen Verantwortlichen wird mittlerweile<br />
schockartig klar, dass sie den Zug in die falsche Richtung<br />
bewegt haben. Sie können das an den rhetorischen Versuchen<br />
zurück zu rudern feststellen. Man hört zunehmend<br />
den Satz: Wir müssen wieder das Fachliche stärken. Das,<br />
was die Bildungspolitik seit Jahrhunderten auszeichnet,<br />
ist eine Pendelbewegung. Der geht inzwischen in die andere<br />
Richtung. Natürlich wird kein Politiker öffentlich<br />
eingestehen, dass er auf das falsche Pferd gesetzt hat.<br />
Aber in den Schulen ist die Kompetenzorientierung bereits<br />
weitgehend im Lehrerbewusstsein als eine gescheiterte<br />
Reform abgelegt.<br />
Sie sprechen von der Eigengesetzlichkeit von Bildung<br />
und Pädagogik. Könnten Sie das bitte erläutern?<br />
Das eine ist eine theoretische Figur und eine Beobachtung,<br />
die Sie in der Praxis machen können. Die theoretische<br />
Figur sagt, dass wir in unseren modernen<br />
Gesellschaften, die eine ungewisse offene Zukunft haben,<br />
als erwachsene Generation nicht mehr präzise voraussagen<br />
können, was die nächste Generation an Wissen, Können<br />
und natürlich auch an Kompetenzen erwerben muss,<br />
um die auf sie zukommenden Aufgaben zu erfüllen. Das<br />
war in alten traditionellen Gesellschaften anders. Da hatte<br />
man einen stabilen Zukunftshorizont. Die erwachsene<br />
Generation wusste genau, der Sohn wird Nachfolger auf<br />
dem Hof oder Handwerksbetrieb. So konnte man ihn entsprechend<br />
auf die Übernahme der Funktion der Erwachsenengeneration<br />
vorbereiten. Das ist in der modernen<br />
Gesellschaft nicht mehr der Fall. Die Vorbereitung der<br />
nachfolgenden Generation auf die Aufgaben der Zukunft<br />
muss das berücksichtigen. Dazu benötigen wir Bildung.<br />
Das heißt also Autonomie, Urteilskraft, Kritikfähigkeit<br />
und natürlich substanzielles Wissen, eine Fähigkeit die<br />
mit der Urteilskraft verknüpft ist. Wissen, das nicht beliebig<br />
austauschbar ist, sondern einen möglichst rationalen<br />
Standpunkt, eine Orientierung in der Welt ermöglicht.<br />
Wenn wir diese Aufgabe vernachlässigen, hat das fatale<br />
Konsequenzen, weil keine Mündigkeit mehr entsteht,<br />
sondern nur noch Funktionalität und verantwortungslose<br />
Anpassung eingeübt wird. Da sind wir wieder bei der<br />
Kompetenzorientierung. Das ist für eine demokratische<br />
Gesellschaft nicht tauglich. Das kann man für eine technokratische<br />
Gesellschaft beispielsweise nach dem Muster<br />
Chinas empfehlen, aber nicht für unsere modernen demokratischen<br />
Gesellschaften.<br />
Und die praktische Dimension?<br />
Wenn Sie in einer Schulklasse Kinder unterrichten,<br />
haben sie zwei Optionen. Sie können die Kinder zu Papageien<br />
machen, die Ihnen blind oder opportunistisch<br />
(mit den Fruchtstückchen als Belohnung) gehorchen. Sie<br />
richten sie darauf aus, dass sie aus eigenem Antrieb – eine<br />
gute Note zu bekommen – tun, was ein anderer sagt, auch<br />
wenn sie das innerlich ablehnen. Das ist die eine Perspektive,<br />
sozusagen eine Anpassungspädagogik. Sie steht im<br />
Widerspruch zu dem Allgemeinziel von Mündigkeit. Wie<br />
zeigt sich ganz schlicht diese Zielsetzung in der Praxis?<br />
Wenn ein Schüler im Unterricht etwas Falsches sagt, korrigieren<br />
Sie ihn. Sie fordern ihn auf, dass er Begründungen<br />
für das liefert, was er vorträgt. Sie verpflichten ihn<br />
zu Rationalität. Dazu gehört, in der Lage zu sein, auf das,<br />
was ein anderer sagt, auch zu hören und zu antworten.<br />
Das ist die Aufgabe der Pädagogik. Sie finden in der Praxis<br />
unausgesetzt diese Zielsetzung, nicht zuletzt, dass sie<br />
von den Schülern artikuliert wird, weil sie einem Unterricht<br />
widerstehen, der sie unterfordert. Sie stellen die<br />
guten unbequemen Fragen, weil sie nicht verstehen,<br />
worum es geht und der Lehrer ihnen nicht klar macht,<br />
warum sie das lernen sollen. Diese Form von Ansprüchen<br />
erleben wir fast in jedem Unterricht. Die andere Seite verweist<br />
auf die Nicht-Erfüllung der Ansprüche, hier muss<br />
die Kritik am Unterricht ansetzen. Ein Lehrer, der, damit<br />
er keine Konflikte mit den Schülern hat, alles was von<br />
den Schülern kommt positiv beantwortet und gute Noten<br />
verteilt, korrumpiert die pädagogische Tätigkeit. Schüler<br />
erkennen das. Sie wissen, dass sie betrogen werden.<br />
Andreas Gruschka<br />
Andreas Gruschka war Professor im Fachbereich Erziehungswissenschaften<br />
am Institut für Pädagogik der Sekundarstufe der Goethe-Universität Frankfurt.<br />
Seit 2016 ist er emeritiert. Dieser Beitrag wurde in der Zeitschrift „BE-<br />
GEGNUNG – Deutsche schulische Arbeit im Ausland“ 1-2018 veröffentlicht.<br />
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