LT128
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Leuchtturm Nr. 128<br />
Nicht vergessen – hoffen!<br />
Besuch in der Gedenkstätte KZ Engerhafe<br />
Der italienische Chemiker und Schriftsteller, Überlebender<br />
des KZ Auschwitz, Primo Levi hat einmal<br />
eher beiläufig gesagt: „Die Pflicht zu hoffen und die<br />
Pflicht, nicht zu vergessen, sind weder Synonyme noch<br />
Gegensätze.“ Ich möchte ergänzen: beide sind unerlässliche<br />
Folgen des anderen Satzes von Primo Levi, den wir<br />
neben das Panzergrabenmahnmal in Sandhorst gesetzt<br />
haben: „Es ist geschehen, folglich kann es wieder geschehen.“<br />
Die Gedenkstätte<br />
KZ Engerhafe zeigt<br />
einprägsam und umfassend,<br />
was geschehen<br />
ist: die<br />
Nazi-Herrschaft in<br />
Deutschland mit<br />
ihrer unverhohlenen<br />
Grausamkeit und<br />
Brutalität. Wie unter<br />
Herbert Müller, "Engerhafe und Totenzettel",<br />
Aquarellcollage 2002<br />
einem Brennglas<br />
werden alle Fassetten<br />
sichtbar: Die<br />
Opfer kamen aus 14<br />
europäischen Ländern;<br />
sie wurden<br />
verhaftet, weil sie<br />
sich gegen Gewalt<br />
und Unterdrückung aufgelehnt hatten, weil sie Juden<br />
waren, weil die Wehrmacht sie als Geiseln genommen<br />
hatte, weil sie anderer Meinung waren als die Machthaber.<br />
Das Lager war klein und übersichtlich, es lag mitten<br />
im Dorf zwischen der Kirche und der Schule; der Pausenhof<br />
grenzte an den Lagerzaun, die Schulkinder, aber<br />
auch alle anderen Einwohner hatten das Elend unmittelbar<br />
vor Augen. Von etwa 2000 Gefangenen starben in den<br />
zwei Monaten des Bestehens, 21. Oktober bis 22. Dezember<br />
1944, 188 auf dem Engerhafer Friedhof beigesetzte<br />
Gefangene, zu Grunde gegangen an Hunger,<br />
Erschöpfung und Krankheit, unter der Überschrift: „Vernichtung<br />
durch Arbeit“.<br />
Herbert Müller, "Lager und<br />
Gulfhof", Kohle, 2000<br />
Landung alliierter<br />
Streitkräfte in der Normandie<br />
sollte die Nordseeküste<br />
befestigt<br />
werden und in dem<br />
dazu geplanten „Friesenwall“<br />
war Aurich<br />
als Festung vorgesehen.<br />
Dazu wurden<br />
Häftlinge aus dem KZ<br />
Neuengamme als Arbeiter<br />
eingesetzt, die<br />
vor allem Aurich durch<br />
den Bau eines Panzerabwehrgrabens<br />
schützen sollten. Der Elendszug der<br />
streng bewachten Gefangenen zu ihrer Arbeitsstelle<br />
schleppte sich täglich morgens und abends vor aller<br />
Augen durch die Stadt und die umliegenden Dörfer. Besonders<br />
qualvoll war für die nur dürftig bekleideten Männer<br />
das außergewöhnlich nass-kalte Herbst- und<br />
Winterwetter, dem sie schutzlos ausgeliefert waren.<br />
Niemand konnte sich diesem unmenschlichen Treiben<br />
entgegenstellen; für viele galten sie ohnehin als Feinde<br />
und Verbrecher. Sie waren durch ein großes gelbes Kreuz<br />
auf dem Rücken gezeichnet; man nannte sie „Gelbkreuzler“.<br />
Unmittelbar nach dem Krieg stellten Mitglieder der<br />
„Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN)<br />
Gedenksteine auf dem Gräberfeld auf. 1952 wurden bei<br />
der Suche nach den vielen in Europa verschollenen Männern<br />
vom französischen Suchdienst die Gräber geöffnet<br />
und die Toten, soweit möglich, identifiziert. Anfang der<br />
60er Jahre wurde das Gräberfeld in eine Anlage umgewandelt,<br />
erst 1990 sorgten Lehrer und Schüler des Auricher<br />
Gymnasiums für die Aufstellung des Mahnmals. Die<br />
jetzige Gestaltung des Gräberfeldes wurde erst nach der<br />
Gründung des Vereins Gedenkstätte KZ Engerhafe e.V.<br />
2009 möglich und 2016 verwirklicht. 2015 wurde an<br />
einem noch deutlich sichtbaren Teilstück des Panzergrabens<br />
in Sandhorst ein Mahnmal errichtet.<br />
Die Geschichte des Lagers wirft ein Licht auf das<br />
Leben in Deutschland am Ende des Krieges. Es war ursprünglich<br />
zur Aufnahme von niederländischen Zwangsarbeitern<br />
eingerichtet, die Luftschutzbunker für die<br />
Bevölkerung der Stadt Emden zu bauen hatten. Nach der<br />
Dieses Teilstück und das Gräberfeld sind sichtbare Beweise<br />
dafür, dass so Unglaubliches selbst in einer Kulturnation<br />
wie Deutschland möglich gewesen ist. Und<br />
Primo Levi ist wohl darin recht zu geben, dass „es wieder<br />
geschehen kann“. Diese Erkenntnis zwingt zu der Frage:<br />
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