LT128
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Leuchtturm Nr. 128<br />
Das Märchen vom bösen 68er<br />
Von wegen 68er: Die realen Probleme Deutschlands haben sehr viel mehr mit den Spät- und Nebenfolgen<br />
der letzten konservativen Wende zu tun - kein Grund für noch so einen Schub Blödsinn.<br />
Eine Kolumne von Thomas Fricke auf<br />
SPIEGEL ONLINE<br />
Der 68er ist ganz schön praktisch. Zumindest für die<br />
eher zum Konservativen Neigenden unter uns. Egal<br />
war schief läuft, der 68er ist schuld. Ob an Heimatverlust,<br />
osteuropäischen Banden, flächenweit mangelndem Patriotismus<br />
oder, noch schlimmer, Gleichstellung der Frau. Und<br />
irgendwie auch an so komplizierten Dingen wie der „Geldmengeneskalation“<br />
der Europäischen Zentralbank, also<br />
dem Nullzins.<br />
So tönte der führende deutsche Dichter und Denker Alexander<br />
Dobrindt, als er zum Jahresstart irgendwas mit konservativer<br />
Revolution zu wünschen gedachte. So liest sich<br />
auch die eine oder andere Kolumne im Land.<br />
Jetzt lässt sich bei dem einen oder anderen Phänomen des<br />
Jahres 2018 nach Christus analytisch sicher eine Spur über<br />
fünfzig Jahre zurück nach 1968 verfolgen. Also wahrscheinlich.<br />
Für die meisten aktuellen Übel braucht es ein<br />
zumindest etwas gröberes Verständnis von Ursache-Wirkungs-Ketten,<br />
also den Zusammenhang zwischen der Kommune<br />
1 und rumänischen Gastkriminellen. Oder Uschi<br />
Obermaier und Mario Draghi.<br />
Das wirkt dann eher wie ein ziemlich dreister konservativer<br />
Versuch der Geschichtsumdeutung.<br />
In Wahrheit liegt das Gros der tieferen Probleme heute ja<br />
weniger bei den Langhaarigen von anno dazumal, sondern<br />
im Gegenteil in den Spätfolgen jener konservativen Wende,<br />
mit der die Hippie-Garde um Ronald Reagan, Margaret<br />
Thatcher und Helmut Kohl in den frühen Achtzigern die<br />
Ära vom Glauben an heilige Marktkräfte und das Durchsickern<br />
des großen Geldes hin zu den Armen einleiteten -<br />
samt späterem Kontrollverlust und Heimatkrise. Dann hilft<br />
gegen unsere Probleme aber auch nicht, jetzt den nächsten<br />
konservativen Unsinn noch draufzulegen. Geschichtsgott,<br />
hilf!<br />
Wenn es heute in Dörfern keine Post mehr gibt, hat das<br />
ja weniger mit Alt-68ern als damit zu tun, dass im Reagan-<br />
Thatcher-Kohlschen Liberalisierungseifer einst irgendwie<br />
alles privatisiert werden und dem Alles-muss-jetzt-Gewinnmachen-Fetisch<br />
erliegen musste. Da wurde die Zahl der<br />
Post-Beschäftigten eben drastisch gekürzt. Von einem<br />
CDU-Postminister. Wodurch der Laden schön Gewinn<br />
machte. Nur gibt es eben jetzt keine Post mehr im Dorf.<br />
Was ähnlich gilt für die Ärzteversorgung. Auch die darf ja<br />
nicht so viel kosten. Da kann man eben nicht überall im<br />
Land eine Praxis haben. Und da muss der Patient auch mal<br />
ein paar Monate auf Abfertigung warten.<br />
22<br />
Hauptsache, die Staatsquote fällt<br />
Wenn es in Deutschland heute vermeintlich zu wenig<br />
Polizisten zum Aufpassen gibt, hat auch das mehr mit<br />
marktliberaler als linker Staatsfeindschaft zu tun. Konservative<br />
Errungenschaft. Es musste ja über Jahre, weil der<br />
Markt es nach gängigem Dogma immer besser kann, der<br />
Staat kleiner werden. Hauptsache, die Staatsquote fällt. Was<br />
dazu führte, dass dieselben Ökonomiepäpste juchzten, dass<br />
in öffentlichen Verwaltungen Jahr für Jahr ein Prozent weniger<br />
Leute beschäftigt waren, die jetzt Stellenmangel beklagen.<br />
Da gab es am Ende eben auch weniger Polizisten.<br />
Und wir müssen schon einmal ein paar Monate warten, bis<br />
unsere Slimfit-Behörden einen Ausweis fertig haben.<br />
Wenn osteuropäische Banden heute so locker auf Einbruchtourismus<br />
machen, ist das ebenfalls kein linker Feldzug<br />
gegens Bürgertum, sondern - wenn überhaupt -<br />
Nebenfolge jenes konservativ-wirtschaftsliberalen Leitmotivs,<br />
nach dem Grenzen nicht offen genug sein können. Und<br />
deshalb auch möglichst schnell möglichst viele Länder in<br />
die EU kommen sollten. Was nirgendwo heute so grotesk<br />
wirkt wie in Großbritannien, das einst vorbildlich wirtschaftsliberal<br />
die Grenzen für Osteuropäer schon öffnete,<br />
bevor es die EU-Verabredungen vorschrieben - und heute<br />
Populisten beheimatet, die mit Wehklagen über polnische<br />
Klempner das Land ins Politdesaster stürzen. Das spricht<br />
nicht dafür, die EU wieder abzubauen, belegt aber, dass das<br />
Problem eher bürgerliche Wurzeln hat.<br />
Nächstes Beispiel: das Verschwinden regionaler Eigenheiten?<br />
Auch ziemlich weitgehend vom marktliberalem<br />
Verständnis getrieben: weil das Ideal vollkommener Konkurrenz<br />
nur gewährleistet ist, wenn einzelne Länder nicht<br />
hier und da Sondernormen halten, die es ausländischen<br />
Konkurrenten schwer machen, dort zu verkaufen. Grundsätzlich<br />
nachvollziehbar. Nur eben fraglich, ob das Prinzip<br />
nicht zu weit getrieben wurde. Auf Kosten des Lokalkolorits.<br />
Der Homo Oeconomicus ist universell<br />
Nichts ist im Grunde so gleichmachend, geschichts- und<br />
identitätsvergessen wie die handelsüblichen Ökonomie-Erklärungsmodelle<br />
der vergangenen Jahrzehnte. Da ist ziemlich<br />
wenig die Rede von (nationalen) Identitäten oder<br />
menschlichen Mentalitätsunterschieden. Der Homo oeconomicus<br />
ist universell. Ob in Bottrop oder Hanoi. Multikulti<br />
auf Ökonomisch. Kern liberal-konservativen<br />
Wirtschaftsverständnisses. Ob man das gut findet oder<br />
nicht.<br />
Selbst Zuwanderung und Gleichberechtigung sind keine