Download der Publikation - Hanns-Seidel-Stiftung
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Im Fokus<br />
Osten sowie die um verfassungspolitische<br />
Identität ringenden Balkanstaaten<br />
sind in je unterschiedlicher Weise Regionen<br />
im Umbruch, die unabwendbar<br />
zahlreiche Bewohner zur Flucht in den<br />
europäischen Westen, den alten Okzident,<br />
hervorbringen werden. 2012 gingen<br />
77.651 Asylanträge beim Bundesamt<br />
für Migration und Flüchtlinge<br />
(BAMF) ein, davon waren 64.539 Erstanträge<br />
und 13.112 Folgeanträge. Das<br />
war eine erhebliche Steigerung gegenüber<br />
den Vorjahren. Die folgenden sieben<br />
Herkunftslän<strong>der</strong> bildeten die Spitzengruppe<br />
bei den Asylanträgen, darunter<br />
fünf islamische Län<strong>der</strong> aus dem Nahen<br />
und Mittleren Osten: Serbien<br />
(8477), Afghanistan (7498), Syrien<br />
(6201), Irak (5352), Mazedonien (4546),<br />
Iran (4348) und Pakistan (3412). 6 Auch<br />
aus Ägypten, Algerien und Mali wird<br />
sehr bald die Zahl <strong>der</strong> Anträge anschwellen.<br />
Nach Schätzungen des UNHCR<br />
sind im Jahr 2011 rund 56.000 Flüchtlinge<br />
allein aus Tunesien und Libyen in<br />
die EU-Län<strong>der</strong> geflohen, die meisten<br />
über Italien; und Griechenland ist zum<br />
Durchgangstor für Flüchtlinge aus dem<br />
Mittleren Osten und Asien geworden,<br />
wobei allein 55.000 illegal eingewan<strong>der</strong>te<br />
Migranten bei Evros über die griechisch-türkische<br />
Grenze gelangt sein<br />
sollen. Die ca. sieben Millionen Kopten<br />
in Ägypten, die in einem von den Muslim-Brü<strong>der</strong>n<br />
und Salafisten dominierten<br />
Staat zu Bürgern zweiter Klasse abgestempelt<br />
sind, sowie die von muslimischen<br />
Fundamentalisten bedrängten<br />
christlichen Min<strong>der</strong>heiten in schwachen<br />
Staaten wie Irak, Syrien, Jemen und Afghanistan<br />
werden den Migrationsdruck<br />
an den Grenzen <strong>der</strong> Europäischen Union<br />
in den nächsten Jahren und Jahrzehnten<br />
mit Sicherheit weiter erhöhen.<br />
56 POLITISCHE STUDIEN // 448<br />
Auch <strong>der</strong> Iran mit einer gescheiterten<br />
Rebellion <strong>der</strong> akademischen Jugend gegen<br />
das alle individuellen Freiheiten erstickende<br />
Mullah-Regime wird weiterhin<br />
zu den Län<strong>der</strong>n gehören, denen<br />
frustrierte Bürger den Rücken kehren<br />
werden.<br />
Außerdem sind im Jahr 2011 etwa<br />
1500 Menschen bei den Versuchen, Europa<br />
über das Mittelmeer zu erreichen,<br />
ertrunken o<strong>der</strong> gelten als vermisst. 7 Sie<br />
stammen aus den vom Staatszerfall bedrohten<br />
Län<strong>der</strong>n West- und Zentralafrikas,<br />
allen voran Elfenbeinküste, Mali,<br />
Mauretanien, Niger, Burkina Faso und<br />
DR Kongo. Ortskundige Beobachter<br />
vertreten die Ansicht, dass vor allem die<br />
<strong>der</strong> zustrom aus dem nahen und<br />
mittleren osten wird zunehmen.<br />
Jugendlichen ein Afrika-Bild gewonnen<br />
haben, das sie mit Stagnation, Elend<br />
und Unsicherheit verbinden, wobei sie<br />
Europa mit Wohlstand und Entwicklungschancen<br />
gleichsetzen. Afrika südlich<br />
<strong>der</strong> Sahara soll <strong>der</strong> einzige Kontinent<br />
sein, dessen jugendliche Bewohner<br />
mehrheitlich ihre Heimat wegen Jobmangel<br />
verlassen möchten, wenigstens<br />
temporär. Somit haben wir es mit einer<br />
geopolitischen Krisensituation bisher<br />
unbekannter Dimension zu tun, die die<br />
Politik <strong>der</strong> EU und ihrer Mitgliedstaaten<br />
vor große finanzielle und politische<br />
Herausfor<strong>der</strong>ungen stellt. Denn im Zeitalter<br />
grenzüberschreiten<strong>der</strong> Waren-,<br />
Geld- und Ideenströme ist Sicherheit in<br />
Europa nicht ganz unabhängig von<br />
dem zu gewährleisten, was im „nahen<br />
Ausland“ jenseits <strong>der</strong> eigenen Grenzen<br />
passiert.<br />
Drei politische Handlungsoptionen<br />
angesichts zunehmen<strong>der</strong> Nord-Süd-<br />
Gegensätze<br />
Den politisch Verantwortlichen in<br />
Deutschland und Brüssel stehen drei<br />
Handlungsoptionen zur Verfügung:<br />
Erstens Maßnahmen zur Stabilisierung<br />
von Institutionen von schwachen o<strong>der</strong><br />
kollabierenden Staaten (Fluchtursachenbekämpfung<br />
durch capacity building<br />
vor Ort, Beispiel Äthiopien); zweitens<br />
gewaltsame Abhaltung <strong>der</strong> illegalen<br />
Flüchtlinge durch die europäische Einsatztruppe<br />
auf dem Mittelmeer FRON-<br />
TEX, die an den Küsten verhin<strong>der</strong>n soll,<br />
dass Bootsflüchtlinge aus Afrika an<br />
Land gelangen können (Prävention) und<br />
drittens die Option, durch eine intelligente<br />
multilaterale Nachbarschaftspolitik<br />
auf EU-Ebene, die den berechtigten<br />
Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen<br />
bei<strong>der</strong> Seiten langfristig und nachhaltig<br />
Rechnung zu tragen versucht, die Absorptionskapazität<br />
<strong>der</strong> Aufnahmelän<strong>der</strong><br />
für Immigranten und Asylbewerber<br />
wirksam und berechenbar zu erhöhen.<br />
Mit <strong>der</strong> alljährlichen Erhöhung <strong>der</strong><br />
Finanzmittel für das militärische Abwehrsystem<br />
FRONTEX zur Abhaltung<br />
<strong>der</strong> Flüchtlinge, Asylbewerber und illegalen<br />
Einwan<strong>der</strong>er – so notwendig diese<br />
prinzipiell auch erscheinen mag – wird<br />
es nicht getan sein, Einwan<strong>der</strong>ungswillige<br />
in <strong>der</strong> Größenordnung von mehreren<br />
Hun<strong>der</strong>ttausenden jährlich abzuhalten.<br />
Es bleibt aber die Aufgabe, selektiv<br />
Ventile zu schaffen und Membranen zu<br />
öffnen. Die Geschichte (z. B. die <strong>der</strong> illegalen<br />
Masseneinwan<strong>der</strong>ung über die<br />
mexikanische Grenze in die USA) lehrt,<br />
dass wachsende sozio-ökonomische<br />
Ungleichgewichte zwischen Großregionen,<br />
die von mobilisierten Entwicklungsverlierern<br />
als relative Deprivation<br />
und untragbare Ungerechtigkeit wahrgenommen<br />
werden, zu latenter Instabilität<br />
und Rebellionsversuchen führen.<br />
Aufgeweckte, aber vom Status quo frustrierte<br />
Menschen wan<strong>der</strong>n dorthin, wo<br />
sie überleben können, koste es, was es<br />
wolle. Nach Albert O. Hirschman haben<br />
sie zwei Handlungsoptionen, ihre<br />
Situation zu än<strong>der</strong>n: Wenn Loyalität<br />
zum Regime unmöglich geworden ist,<br />
erheben sie ihre Stimme zum Protest<br />
(„Voice“) und wenn das keine Verän<strong>der</strong>ung<br />
bringt, bleibt ihnen nur die „Exit“-<br />
Option, nämlich Abwan<strong>der</strong>ung.<br />
Nach Einschätzung <strong>der</strong> Kreditanstalt<br />
für Wie<strong>der</strong>aufbau (KfW) in ihrem<br />
jüngsten „Jahresbericht über die Zusammenarbeit<br />
mit Entwicklungslän<strong>der</strong>n“<br />
könnten die durch den „Arabischen<br />
Frühling“ geweckten Hoffnungen<br />
in <strong>der</strong> Jugend <strong>der</strong> arabischen Län<strong>der</strong>n<br />
vorrangig durch wirtschaftliches<br />
Wachstum auf breiter Beschäftigungsbasis<br />
befriedet werden: „Die Generation<br />
<strong>der</strong> 20- bis 35-Jährigen, die in allen arabischen<br />
Län<strong>der</strong>n etwa ein Drittel <strong>der</strong><br />
Bevölkerung ausmacht, leidet unter hoher<br />
Arbeitslosigkeit. In Tunesien, Ägypten<br />
o<strong>der</strong> im Jemen sucht je<strong>der</strong> dritte junge<br />
Mensch einen Arbeitsplatz. Zudem<br />
PeRsPekTiven mittels wirtschaftlichem<br />
wachstum in den betroffenen<br />
län<strong>der</strong>n können dem abwan<strong>der</strong>ungsdruck<br />
entgegenwirken.<br />
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