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Dokument 1.pdf - OPUS - Universität Würzburg

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land noch rund 8% der Bevölkerung mit sogenann­<br />

ter "Klassischer Musik" beschäftigen - was immer<br />

dabei beschäftigen heißen mag. Die Meinung öffent­<br />

lich zu äußern, daß für solche elitären Interessen<br />

viel weniger Steuermittel eingesetzt werden sollten,<br />

bedarf es keines besonderen Mutes mehr (weswe­<br />

gen, wenn ich mir als schlichter Bürger gegenüber<br />

der politischen Einschätzung die Bemerkung erlau­<br />

ben darf, in <strong>Würzburg</strong> nicht nur vordergründig eine<br />

Finanzkrise des Theaters herrscht, sondern, wie über­<br />

all, eine kaum mehr versteckte Kulturkrise, von der<br />

hier eben das Theater betroffen ist). In den meisten<br />

Tageszeitungen befindet sich die Musik­<br />

berichterstattung, ohnehin auf das Minimum einer<br />

halben, höchstens ganzen Seite reduziert, auf einem<br />

deplorablen Stand; in ihr regiert nicht selten ein von<br />

Sachkenntnis und Urteilsvermögen unberührter Di­<br />

lettantismus. 80% des Musikunterrichts an Grund-,<br />

Haupt- und Realschulen werden von fachfremden<br />

Lehrern erteilt, wenn er nicht, häufiger noch, einfach<br />

ausfällt. Auf das Stundendeputat für Musik im Lehr­<br />

plan an Höheren Schulen, wo sich das Fach bei Schü­<br />

lern in einem zähen Kampf mit dem Religionsunter­<br />

richt um den letzten Platz in der Beliebtheitsskala<br />

befindet, sind die Begehrlichkeiten der Schulpoliti­<br />

ker schon seit längerem gerichtet. Und die Musik­<br />

wissenschaft? Seien wir auch hier ehrlich: Von ihren<br />

versteckten, weit in das Musikleben hineinreichen­<br />

den Leistungen wissen die wenigsten; ihre gelegent­<br />

liche Forderung, daß zur Erkenntnis des musikali­<br />

schen Kunstwerks auch die Kenntnis seiner Faktur<br />

und seiner Geschichte unumgänglich sind, wird als<br />

lästige Zumutung weggewischt. Schließlich: wenn es<br />

in Planungsstäben um die Zukunft von <strong>Universität</strong>en<br />

geht, dann darf der Rotstift gerne einmal an einer<br />

musikwissenschaftlichen Professur oder sogar an<br />

einem ganzen Institut angesetzt werden.<br />

Ich trage diesen realistischen Befund ohne jede Lar­<br />

moyanz vor. Er betrifft schließlich kein isoliertes Phä­<br />

nomen oder nur eine universitäre Einzeldisziplin, son­<br />

dern er benennt Symptome einer gesamtge­<br />

sellschaftlichen Entwicklung. Mit kaum anderen Ak­<br />

zenten könnten Vertreter vieler wissenschaftlicher Fä­<br />

cher für ihre Gebiete ähnliche Diagnosen stellen, aber<br />

auch Kirchenleuten oder Gewerkschaftsfunktionären<br />

offenbaren sich beim Blick auf ihre Zuständigkeits­<br />

bereiche vergleichbare Tendenzen. Kulturpessimisti­<br />

sche Weinerlichkeit führt bei einem solchen Zeit­<br />

zustand zu nichts, was immer schon so war. Nach<br />

einer längeren Begegnung mit Beethoven im Jahre<br />

Essays<br />

1812 schrieb Goethe aus Karlsbad an seinen musika­<br />

lischen Intimus Karl Friedrich Zelter, daß der Kompo­<br />

nist "zwar garnicht unrecht" habe, wenn er "die Welt<br />

detestabel" finde, "aber sie freilich dadurch weder<br />

für sich noch für andere genußreicher" mache. Ich<br />

werde mich auch davor hüten, die detestable Welt­<br />

lage insgesamt erklären zu wollen und anschließend<br />

Handlungsanweisungen für Verbesserungen zu ge­<br />

ben, denn schließlich bin ich weder Sphinx, Orakel<br />

noch Politiker. Aber einige ausgewählte Beobachtun­<br />

gen, die allesamt mittel- oder unmittelbar den Mu­<br />

sikwissenschaftler betreffen, für den es heute kei­<br />

nen Elfenbeinturm und kein Orchideenhaus mehr gibt,<br />

möchte ich anfügen.<br />

Wir hatten gesehen, daß in Antike, Mittelalter und<br />

Neuzeit Reflexionen über die Musik in engem Zu­<br />

sammenhang mit Weltanschauung und Menschen­<br />

bildung standen. In der bürgerlichen Gesellschaft rich­<br />

tete sich das Bildungsziel der Selbstvervollkommnung<br />

darüberhinaus auf die Funktion des Individuums in<br />

einem Sozialverband, auf seine das Gemeinwesen<br />

fördernde und verbessernde Tätigkeit. Musik mach­<br />

te der Einzelne in diesem höheren Zusammenhang<br />

nicht nur für sich, sondern auch für andere und mit<br />

anderen. Dieser einst überaus lebendige Gedanke,<br />

der beispielsweise in den zahllosen Musikvereinen<br />

mit ihren insgesamt nach Millionen zählenden Mit­<br />

gliedern präsent war, welkt seit einigen Jahrzehnten<br />

dahin. Die Preisgabe der bürgerlichen Bildungsidee<br />

und die Förderung eines unter dem Stichwort der<br />

Selbstverwirklichung nur schwach kaschierten kol­<br />

lektiven Egoismus haben das Verhältnis von Eigen­<br />

sinn und Gemeinsinn in eine bedenkliche Schieflage<br />

gebracht, gewiß nicht allein, aber doch wirksam.<br />

Musik wird immer seltener mit Erziehung, Bildung,<br />

emotionaler Tiefe, künstlerischer Phantasie oder gei­<br />

stiger Herausforderung in Verbindung gebracht oder<br />

als wichtiges identitätsstiftendes Mittel einer Gesell­<br />

schaft angesehen. Vielmehr herrscht ein tausendfach<br />

zersplitterter Umgang mit allen erdenklichen Formen<br />

des Klingenden: Musik ist abgelöst worden von Mu­<br />

siken, Kunst ist an ihr alles oder nichts.<br />

Diese Entwicklung hat die Musikwissenschaft in die<br />

Lage gebracht, daß sie als genuin historisches Fach<br />

trotz Ausweitung zu systematischen und ethnologi­<br />

schen Fragestellungen hin heute primär nur mehr<br />

mit einem begrenzten Ausschnitt der musikalischen<br />

Welt befaßt ist, dem der Kunstmusik, einem Aus­<br />

schnitt der musikalischen Gesamtproduktion zudem,<br />

der, wie wir gesehen haben, bei aller unbestreitbaren<br />

"I BUCK<br />

"Musik wird immer<br />

seltener mit Erziehung,<br />

Bildung, emotionaler Tiefe,<br />

künstlerischer Phantasie<br />

oder geistiger<br />

Herausforderung in<br />

Verbindung gebracht oder<br />

als wichtiges<br />

identitätsstiftendes Mittel<br />

einer Gesellschaft<br />

angesehen."

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