Dokument 1.pdf - OPUS - Universität Würzburg
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BLICK 12<br />
"Was bedeuten schon die<br />
Märchen und Mythen der<br />
Völker, wenn jeder Schritt,<br />
den die experimentellen<br />
Naturwissenschaften tun, ein<br />
weiterer Schritt zur<br />
Entzauberung der Welt ist,<br />
wenn die Konstanz der<br />
Elemente durchbrochen wird,<br />
das Innere des Lebens offen<br />
liegt, Utopien und Visionen<br />
der Märchenwelten durch die<br />
wissenschaftliche Realität<br />
überholt sind?" (Frühwald)<br />
Essays<br />
künstlerischen und geistigen Potenz in der Lebens<br />
wirklichkeit vieler Menschen nicht mehr vorkommt.<br />
Das müßte kein Anlaß zur Beunruhigung sein, wür<br />
den nicht in einem offensichtlich unaufhaltbaren Pro<br />
zeß die Maßstäbe für die Güte geistiger Gegenstän<br />
de mehr und mehr von einer qualitativen hin zu ei<br />
ner quantitativen Bewertung verschoben. Man kann<br />
das sehr viel platter ausdrücken: immer entschei<br />
dender wird, wozu eine Sache nützt und was sie<br />
finanziell einbringt.<br />
Geisteswissenschaften im Zwang des<br />
ökonomischen Utilitarismus<br />
In der Hollywood-Komödie What's up, Doc?wird der<br />
angeklagte Hauptdarsteller von einem Richter nach<br />
seinem Beruf gefragt. Er sei Doktor der Musikwis<br />
senschaft, bekennt der Befragte schüchtern . Ob er<br />
dann ein Radio reparieren könne, lautet die zweite<br />
Frage des Richters. Als der Angeklagte verneint, wird<br />
er aufgefordert, gefälligst seinen Mund zu halten. So<br />
wie der Beschuldigte in diesem Dialog kommen alle<br />
die schlecht weg, die nicht in harten Zahlen die Rele<br />
vanz ihres Tuns nachweisen können. In den Augen<br />
sogar der nicht nur Übelmeinenden sind das an der<br />
<strong>Universität</strong> zum Beispiel die Geisteswissenschaften,<br />
also auch die Musikwissenschaft. Wolfgang Frühwald,<br />
seit 1999 als erster Geisteswissenschaftier an der<br />
Spitze der Alexander von Humboldt-Stiftung, hat die<br />
Situation dieser Fächer jüngst präzise charakterisiert.<br />
Aus allen Ecken ertöne, so Frühwald, die Frage nach<br />
Zweck und Nutzen der Geisteswissenschaften, "nach<br />
den von ihnen vermittelten brauchbaren Fähigkeiten<br />
in einer auf Ökonomie und Kommerz gestellten Welt.<br />
... Daß von der fortschreitenden Ökonomisierung<br />
unseres Denkens und Sprechens vor allem die Geistes<br />
wissenschaften im engeren Sinne bedrängt werden,<br />
also jene Fächer und Disziplinen, die es mit Ästhe<br />
tik, Moral und Geschichte zu tun haben, ist unmittel<br />
bar einsichtig. Was bedeuten schon die Märchen und<br />
Mythen der Völker, wenn jeder Schritt, den die expe<br />
rimentellen Naturwissenschaften tun, ein weiterer<br />
Schritt zur Entzauberung der Welt ist, wenn die Kon<br />
stanz der Elemente durchbrochen wird, das Innere<br />
des Lebens offen liegt, Utopien und Visionen der<br />
Märchenwelten durch die wissenschaftliche Realität<br />
überholt sind?"<br />
"In dem munteren Halali, das in vielen Bundeslän<br />
dern auf Stellen, Mittel und akademische Institutio<br />
nen geblasen wird, sind jene Wissenschaften, die<br />
um ihrer Gegenstände willen an individuellen For-<br />
schungsstilen festhalten und inmitten von ,Spaßkul<br />
tur' und ,Klamauk-Kommunikation' noch von Einsam<br />
keit und Freiheit als den Bedingungen des Forscher<br />
lebens träumen, dem offen herbeigeführten Unter<br />
gang ausgesetzt. Die derzeit im Umlauf befindlichen<br />
Modelle zur leistungsbezogenen Mittelverteilung an<br />
den <strong>Universität</strong>en bevorteilen die drittmittelstarken,<br />
experimentellen Fächer. Das Buch, das die Summe<br />
eines 20jährigen Forscherlebens zieht, ist plötzlich<br />
nur noch eine geringwertige Ziffer in der Jahresbilanz<br />
eines Instituts."s<br />
Natur- contra Geisteswissenschaften?<br />
Soweit Frühwald . Man wird seiner pointierten Be<br />
schreibung zustimmen wollen, auch wenn sie an dem<br />
ein und anderen Punkt mißverstanden werden könnte.<br />
Der Tendenz zum Rückzug in die Einsamkeit mögen<br />
Mitglieder reiner Forschungsinstitutionen nachgeben<br />
können; <strong>Universität</strong>sprofessoren steht das eigentlich<br />
nicht an. Wenn mich meine Lateinkenntnisse nicht<br />
völlig im Stich lassen, dann leitet sich unsere Be<br />
rufsbezeichnung vom Verb profiteri ab, was "offen<br />
bekennen" und "öffentlich erklären" heißt. Es scha<br />
det dem Professor publicus also nicht, wenn er für<br />
seine Gegenstände und Erkundungen außer in · der<br />
Fachwelt auch Verbündete in der außeruniversitären<br />
Öffentlichkeit sucht. Was mir weiterhin bedenklich<br />
erscheint ist der permanent unternommene und meist<br />
erfolgreiche Versuch, Natur- und Geisteswissenschaf<br />
ten gegeneinander in Stellung zu bringen. Selbstver<br />
ständlich existieren zwischen beiden sachliche Trenn<br />
linien. Die Geisteswissenschaften wenden sich mit<br />
ihren Verstehensversuchen den vielen Bereichen der<br />
genuin menschlichen Existenz zu, die von sinnhaft<br />
konstruierten Gegenständen bestimmt werden, wäh<br />
rend die Naturwissenschaften Gegenstände untersu<br />
chen, die grundSätzlich sinnfrei sind. Aber zwischen<br />
einem physikalischen Ton, also der einzelnen sinus<br />
förmigen Schwingung, oder einem physikalischen<br />
Klang, der komplexen, aus mehreren Teilschwingun<br />
gen zusammengesetzten Schwingung, zwischen die<br />
sen sinnfreien, objektiv definierbaren Phänomenen<br />
und dem musikalischen Ton, dem musikalischen<br />
Klang, beides Erscheinungen, die einzig und allein<br />
sinn haft durch den Menschen existieren, bestehen<br />
engste Verbindungen. Musik machen heißt doch, ein<br />
akustisches und ein humanes Faktum schaffen. Was<br />
helfen uns da die Fortifikationen traditioneller<br />
Kategorienbildungen, die doch ohnehin dank der Er<br />
kenntnisse von Neurophysiologie und Hirnforschung