OM Deutsch 2010 Internet-Ausgabe.pdf
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Entfremdung vom Land:<br />
„Internationalisierung“ der<br />
Kulturlandschaft und der Natur<br />
Die von Moskau diktierte „Internationalisierung“ der<br />
Wirtschaft und der Landwirtschaft hatte eine verheerende<br />
Entfremdung von der traditionellen kulturellen und<br />
ökologischen Landessituation zur Folge.<br />
Anstelle der traditionellen Einzelhöfe kam es zur<br />
Einrichtung von Kolchosen und Sowchosen. Der Erste<br />
Sekretär der KP Lettlands, Arvīds Pelše, verkündete 1960<br />
in der Presse, daß innerhalb des nächsten Jahrzehnts<br />
180.000 Einzelhöfe verschwinden würden. In den<br />
Industriezentren wurden nach dem Muster der Moskauer<br />
Vorstadt Tscherjomuschk großflächige Fertigteilneubauten<br />
errichtet. Bei gleichzeitiger Steigerung der Wohndichte<br />
wurden die Wohnflächen pro Kopf verringert.<br />
Um die für die Kollektivwirtschaften benötigten<br />
Feldflächen bereitzustellen, wurde mit der sogenannten<br />
Melioration begonnen, der Einebnung des Bodens nebst<br />
Abriß von Einzelhöfen, Trockenlegung von Senken im<br />
großen Maßstab sowie der Einzwängung der Flußbetten,<br />
wobei das gewohnte Landschaftsbild Lettlands rücksichtslos<br />
verändert wurde.<br />
Auch die Flußlandschaft des größten Stromes im Land,<br />
der Daugava (Düna), wurde verändert. Als 1958 mit der<br />
Planung des Wasserkraftwerks Pļaviņas begonnen wurde,<br />
kam es zu heftigen öffentlichen Debatten über den Sinn<br />
des Projekts und die absehbare Flutung von Kultur- und<br />
Naturdenkmälern. Doch die Kommunisten beendeten<br />
jegliche Diskussionen. Der Leiter des KGB in Lettland, Jānis<br />
Vēvers, verkündete 1959: „Diesen kollektiven Protesten, die<br />
die Gesellschaft gegen die Industrialisierung aufgebracht<br />
haben, war durch unser operatives Eingreifen ein Ende zu<br />
setzen.“ Das Wasserkraftwerk nahm schließlich 1965 seinen<br />
Betrieb auf.<br />
Ein typisches Architekturbeispiel der Chruschtschow-Zeit in<br />
Kleinstädten und auf dem Land.<br />
Sowjetische Geschichtsstunde,<br />
Teil 24<br />
Um die Probleme in der Landwirtschaft wissend,<br />
erkannte auch die Geschichte der Lettischen SSR an, daß<br />
die Privatwirtschaften einen bedeutenden Beitrag zum<br />
Gesamtertrag der Landwirtschaft leisteten: „Durch die<br />
Entwicklung der Pflanzen- und besonders der Tierproduktion<br />
wurde im öffentlichen Sektor der gesamten Republik in den<br />
sechziger, siebziger und achtziger Jahren eine wesentliche<br />
Steigerung der landwirtschaftlichen Bruttoerträge erzielt,<br />
was eine sichere Grundlage für die Erweiterung der<br />
landwirtschaftlichen Lebensmittelproduktion bildete.<br />
Doch sowohl an der Produktion wie auch beim Verbrauch<br />
hatten die privaten Nebenwirtschaften wie auch die<br />
Kleingartengesellschaften (Obst- und Gemüseproduktion)<br />
einen großen Anteil.“ (Band 2, S. 381)<br />
Das Gespenst des „bourgeoisen<br />
Nationalismus“:<br />
Kampf der Kommunistischen Partei<br />
gegen alles Nationale<br />
Seit der Absetzung der Nationalkommunisten und der<br />
folgenden „Säuberung“ der Partei 1959 wurde der<br />
Kampf gegen den „bourgeoisen Nationalismus“ und für<br />
den „Internationalismus,“ seit jeher feste Bestandteile<br />
kommunistischer Ideologie, intensiviert. Als bourgeoiser<br />
Nationalismus wurde alles angesehen, was nur irgendwie<br />
mit nationalen Ideen oder der westlichen Welt, nichts<br />
aber mit der Sowjetunion und der Verherrlichung des<br />
Kommunismus zu tun hatte.<br />
Ziel war es, die Westorientierung und die psychologische<br />
Abgrenzung der Balten gegenüber dem „Großen Bruder“<br />
im Osten zunächst zu verringern und schließlich gänzlich<br />
abzubauen. Die offizielle Propaganda bemühte sich, die<br />
Ansicht zu formen und zu verfestigen, daß den Balten, die<br />
konsequent an der Sprache ihrer Völker festhielten, stets ein<br />
Hang zum Nationalismus eigen war, den Russen dagegen ein<br />
Hang zum Internationalismus.<br />
Der Kampf gegen den bourgeoisen Nationalismus zog<br />
die Verfremdung, das Verschweigen und die Zerstörung<br />
nationaler Symbole und Erinnerungsstätten nach sich.<br />
Nationalpatrioten unterlagen Repressionen, und die Zensur<br />
wurde verschärft.<br />
Die Sowjetmacht unternahm die Anstrengung, die ihrer<br />
Ansicht nach auszumerzenden Äußerungen von Nationalismus<br />
durch vom kommunistischen Internationalismus geschaffene<br />
zu ersetzen. So wurde im ganzen Land der Tag der<br />
Roten Armee begangen. An die Stelle des traditionellen<br />
Muttertages trat der Internationale Frauentag.<br />
Die lettischen Johannistagsfeiern versuchte man vor<br />
dem Hintergrund des kollektiven Zusammenlebens im<br />
Kolchos zu sowjetisieren. Nach der Ausschaltung der<br />
Nationalkommunisten waren Johannisfeiern für mehrere<br />
Jahre gänzlich verboten bzw. wurden zum „Tag der<br />
Sommersonnenwende.“ Nach der Aufhebung des Verbots<br />
kamen die traditionellen Feiern bis zum Beginn der<br />
nationalen Wiedergeburt Ende der achtziger Jahre nicht<br />
wieder zur Blüte.<br />
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