OM Deutsch 2010 Internet-Ausgabe.pdf
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Der wiedergeborene Staat<br />
Andere<br />
12,5%<br />
Russen<br />
28,5%<br />
87<br />
653<br />
1 354<br />
Letten<br />
59%<br />
Insgesamt 2 294 590<br />
Die ethnische Bevölkerungsstruktur Lettlands <strong>2010</strong><br />
(in Prozent bzw. Tausend).<br />
Essay<br />
Die Geschichte der Okkupation Lettlands endete nicht mit<br />
dem Jahr 1991. Die „Singende Revolution“ hatte zwar die<br />
Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit gebracht,<br />
doch der wiedergeborene Staat hatte alle bewußten und<br />
unbewußten Folgen der Abhängigkeit aus der Besatzungszeit<br />
geerbt. Völkerrechtlich hatte die Republik Lettland 1991 die<br />
51 Jahre zuvor gewaltsam beendete und am 18. November<br />
1918 begründete Souveränität der Republik Lettland auf<br />
ihrem Territorium zurückerhalten. Doch fremde Mächte<br />
und Regime hatten inzwischen das Land regiert und<br />
mit Gewalt und Niedertracht versucht, die Bevölkerung<br />
Lettlands zu unterwerfen und sie für ihre Ziele nutzbar<br />
zu machen. Obwohl die Erinnerung des Volkes an die<br />
verlorene Unabhängigkeit noch so lebendig war und stark<br />
das Verlangen, diese nicht nur wiederherzustellen, sondern<br />
auch das unterbrochene Leben wiederaufzunehmen, war<br />
es doch 1991 nicht mehr möglich, an das gesellschaftliche<br />
Leben der Zeit vor der Okkupation von 1940 anzuknüpfen<br />
als ob in der Zwischenzeit nichts geschehen wäre. Die<br />
schwersten Aufgaben standen noch bevor.<br />
Die Folgen der Besatzungszeit<br />
Im Ersten Weltkrieg und in den folgenden Freiheitskämpfen<br />
war vieles zerstört worden und mußte beim Aufbau des<br />
jungen Staates von neuem geschaffen werden. Bei der<br />
Wiederherstellung der Unabhängigkeit siebzig Jahre später<br />
war es genau umgekehrt: Direkte Zerstörungen gab es<br />
kaum, aber die Folgen der langjährigen Besatzungszeit<br />
mußten überwunden werden. Dies war ein schwerer und ist<br />
auch nach nunmehr zwanzig Jahren ein noch immer nicht<br />
abgeschlossener Prozeß. Hier sollen nur einige der Folgen<br />
der Besatzungszeit angeführt werden.<br />
• Die Bevölkerungsstruktur wurde in der Besatzungszeit<br />
dramatisch verändert. Bei Wiederherstellung des lettischen<br />
Staates lebten nicht nur alteingesessene Bevölkerungsteile im<br />
Land, sondern auch viele Menschen, die in der Besatzungszeit<br />
zugewandert waren. Sie fanden sich plötzlich wieder in<br />
einem kleinen Staat mit anderen Gesellschaftsnormen und<br />
Kulturtraditionen als denen, an die sie gewohnt waren. Der<br />
Anteil der Letten in Lettland war von 75% bei der letzten<br />
Volkszählung der Vorkriegszeit auf 52% bei der sowjetischen<br />
Volkszählung von 1989 zusammengeschmolzen. Die deutsche<br />
Minderheit mit ihrer jahrhundertealten Geschichte in Lettland<br />
war ganz verschwunden. Die Zahl der lettischen Juden, die<br />
den Holocaust überlebt hatten, war äußerst gering; den größten<br />
Teil der nun in Lettland lebenden Juden bildeten Zuwanderer<br />
aus Rußland. Die russische Minderheit, deren Anteil an der<br />
Gesamtbevölkerung vor dem Krieg etwas mehr als 10%<br />
betragen hatte, war 1989 auf 34% angewachsen. Dabei handelte<br />
es sich hauptsächlich um Zuwanderer, die sich vor allem in den<br />
Städten niedergelassen hatten. Bei der Bevölkerungsstruktur<br />
unterscheidet sich Lettland wesentlich von den anderen<br />
baltischen Staaten. Sowohl in Estland als auch in Litauen war<br />
die angestammte Bevölkerung viel homogener als in Lettland.<br />
Hinzu kam, daß die Zuwanderer in Lettland zum Teil aus<br />
privilegierten sowjetischen Militärangehörigen, Mitarbeitern<br />
des Verwaltungs- und Repressionsapparates sowie führenden<br />
Mitarbeitern von Industriebetrieben bestanden, die auch nach<br />
dem Zusammenbruch der Sowjetunion den kommunistischen<br />
Idealen treu blieben. In den größeren Städten Lettlands wurden<br />
die Letten zu einer Minderheit (und sind es zum Teil noch<br />
heute). Auch der Anteil der Weißrussen und Ukrainer stieg stark<br />
an. Russisch wurde zur allgemeinen Verständigungssprache<br />
unter den Zuwanderern. Nach wie vor gibt es in Lettland eine<br />
große Zahl von Angehörigen nichtlettischer Nationalität, die<br />
die lettische Staatsbürgerschaft nicht angenommen haben. Der<br />
Naturalisierungs- und Integrationsprozeß verläuft widerwillig<br />
und schleppend. Anwärter auf die lettische Staatsbürgerschaft<br />
müssen Kenntnisse der lettischen Umgangssprache sowie der<br />
wichtigsten Fakten des lettischen Staates und seiner Geschichte<br />
nachweisen.<br />
• Die Sowjetmacht hatte der lettischen Sprache und Kultur<br />
eine untergeordnete Rolle zugewiesen, was durch die hohen<br />
Zuwandererzahlen und die Gründung russischer Schulen<br />
neben den bestehenden lettischen Schulen noch verschärft<br />
wurde. Russisch hatte Priorität, die lettische Sprache war<br />
zur Zweitsprache geworden. Ihr blieben die Möglichkeiten<br />
versagt, sich gleichberechtigt in allen gesellschaftlichen und<br />
politischen Bereichen zu entwickeln. Sie wurde rücksichtslos<br />
von der aufdringlichen Dominanz des Russischen beeinflußt.<br />
Nahezu alle Letten sprachen russisch, doch bei weitem nicht<br />
alle in Lettland lebenden Vertreter anderer Nationalitäten<br />
sprachen lettisch oder waren überhaupt nur gewillt, lettisch<br />
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