OM Deutsch 2010 Internet-Ausgabe.pdf
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Vizma Belševica<br />
(1931–2005)<br />
Vizma Belševica war eine<br />
der angesehensten Nachkriegsdichterinnen<br />
und<br />
Prosaschriftstellerinnen Lettlands.<br />
Sie absolvierte das<br />
Gorki-Literaturinstitut in<br />
Moskau. Als Jugendliche<br />
war sie im Komsomol tätig,<br />
geriet aber bald in Konflikt<br />
mit der antinationalen Politik<br />
des Regimes. Auf besondere<br />
Kritik stieß ihre 1968<br />
erschienene Gedichtsammlung Gadu gredzeni (Jahresringe)<br />
sowie zwei darin enthaltene Gedichte: „Bemerkungen<br />
Indriķis` des Letten am Rande der Livländischen Chronik“<br />
und „Ein Motiv der Geschichte Lettlands: Altriga.“ Aus<br />
ihren mehrdeutigen metaphorischen Texten las man Kritik<br />
am bestehenden System heraus. Das Zentralkomitee der KP<br />
verurteilte sie für das „Erzeugen eines ideologischen Chaos<br />
beim politisch unerfahrenen Leser.“ Zweimal wurde ihre<br />
Wohnung vom KGB durchsucht und viel unpubliziertes Material<br />
beschlagnahmt, darunter ein Manuskript des ukrainischen<br />
Schriftstellers Iwan Dsjuba mit dem Titel „Internationalismus<br />
oder Russifikation?“ Als Dsjuba zur Verantwortung gezogen<br />
wurde, sagte Belševica zu seinen Gunsten aus: „Wenn ein<br />
Schriftsteller fühlt, daß seine Muttersprache bedroht ist,<br />
dann ist es seine moralische Pflicht, darüber zu schreiben –<br />
ohne Rücksicht auf die Folgen.“ Belševica wurde mit einem<br />
achtjährigen Publikationsverbot belegt. Diskussionen über<br />
ihre Werke und die Erwähnung ihres Namens in der Presse<br />
wurden untersagt. Die „Jahresringe“ wurden beim Leser<br />
dagegen bald zur gefragtesten Sammlung von Gedichten,<br />
welche abgeschrieben und auswendig gelernt wurden.<br />
Imants Kalniņš (1941)<br />
Imants Kalniņš entwickelte sich zu einem beliebten<br />
Komponisten des Volkes und aufgrund seiner geistigen<br />
Opposition zum Schrecken der kommunistischen<br />
Parteiideologen. In seine Musik integrierte er für Lettland<br />
ungewöhnliche Fragmente moderner westlicher Musik. Der<br />
vierte Satz seiner 4. Sinfonie war auf einer Textgrundlage<br />
der amerikanischen Dichterin Kelly Cherry komponiert und<br />
von den Machthabern verboten worden. Erst 1998 konnte die<br />
Sinfonie in ihrer ursprünglichen Form aufgeführt werden.<br />
Viele seiner Lieder wurden verboten, doch sie waren so<br />
beliebt und gewannen durch die Verbote noch an Popularität,<br />
daß sie wie Volkslieder gesungen wurden.<br />
Widerstand und Trotz:<br />
Die Überlebensfähigkeit des Volkes<br />
Durch die erfolgreiche Ausnutzung der begrenzen<br />
Möglichkeiten, die das totalitäre Besatzungsregime<br />
gewährte, überstand die lettische Nation die<br />
Herrschaftszeit von Breschnew, Pelše und Voss, und es<br />
gelang ihr, ihre Identität zu bewahren.<br />
Der bewaffnete Partisanenkampf gegen das Regime<br />
endete 1956, doch der geistige Widerstand im Land hielt bis<br />
zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit an.<br />
Patrioten verbreiteten Flugblätter, stellenweise tauchten<br />
antisowjetische Graffiti auf, Fahnen der UdSSR bzw.<br />
der LSSR wurden heruntergerissen, am 18. November<br />
hingegen, dem Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung der<br />
Republik Lettland im Jahre 1918, die rot-weiß-rote lettische<br />
Fahne gehißt. Zum Totengedenktag, der ebenfalls in den<br />
November fällt, versammelten sich große Menschenmengen<br />
mit brennenden Kerzen auf dem Rigaer Bruderfriedhof<br />
(Soldatenfriedhof) am Standbild der „Mutter Lettland“ sowie<br />
am Denkmal des ersten Präsidenten der Republik Lettland,<br />
Jānis Čakste, auf dem nebenan liegenden Waldfriedhof.<br />
Um diese und andere Äußerungen von Protest und<br />
Dissidententum einzuschränken und zu unterdrücken,<br />
verstärkte der KGB seine Aktivitäten und baute ein dichtes<br />
Informantennetz auf. Es folgten Wohnungsdurchsuchungen<br />
und Festnahmen sowie „psychiatrische Begutachtungen.“<br />
Die Suche nach Wegen, sich den psychologischen Zwängen<br />
zu entziehen, führte zu einer verstärkten Hinwendung zu den<br />
Humanwissenschaften und Künsten; durch Aktivitäten im<br />
Bereich Tourismus und Naturschutz lernten Jugendliche die<br />
Geschichte und Kulturdenkmäler ihrer Heimat kennen. Die<br />
Gesinnung der Jugend fand in der Musik von Raimonds Pauls,<br />
Imants Kalniņš und Zigmārs Liepiņš ihren Ausdruck. Eine<br />
Folklorebewegung entwickelte sich, die anstelle der sowjetischen<br />
Pseudovolkstümlichkeit das authentische Kulturerbe pflegte.<br />
Das Gemeinschaftsgefühl des Volkes wurde befördert und<br />
gestärkt durch das Allgemeine Sänger- und Volkstanzfest, das<br />
alle fünf Jahre ausgerichtet wird und zahlreiche Teilnehmer<br />
und Zuschauer aus ganz Lettland versammelt. Auch<br />
Manipulationen des Liedrepertoires seitens der Behörden<br />
vermochten den nationalen Charakter des Festes nicht zu<br />
unterbinden. Von besonderer Bedeutung war das unter dem<br />
Zeichen des hundertjährigen Bestehens dieser Tradition<br />
stehende Sängerfest von 1973, das zugleich an die Ereignisse<br />
der Zeit des ersten nationalen Erwachens im 19. Jahrhundert<br />
erinnerte. Anläßlich des Festes reisten so viele Exilletten<br />
wie nie zuvor nach Riga. Nach dem Abschlußkonzert zogen<br />
etwa hundert Jugendliche singend zum Freiheitsdenkmal,<br />
um dort Blumen niederzulegen.<br />
Unter Aufsicht der Miliz versammeln sich Letten am Grabmal<br />
des ersten Staatspräsidenten Jānis Čakste.<br />
Protestbekundung am 1. Februar 1982 an einer der<br />
wichtigsten Rigaer Umgehungsstraßen.<br />
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