07.11.2013 Aufrufe

OM Deutsch 2010 Internet-Ausgabe.pdf

OM Deutsch 2010 Internet-Ausgabe.pdf

OM Deutsch 2010 Internet-Ausgabe.pdf

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Artikel Nr. 58 des Strafgesetzbuches<br />

der Russischen Föderativen<br />

Sozialistischen Sowjetrepublik<br />

Ein Sonderteil des ersten Abschnitts unter dem Titel<br />

„Staatsverbrechen“ benannte „konterrevolutionäre Straftaten.“<br />

Dazu zählten direkte Vergehen gegen die Sowjetmacht wie<br />

Heimatverrat, bewaffneter Aufruhr, Terrorakte, Diversion<br />

(Sabotage gegen den Staat), Spionage, Sabotage (hier: bewußte<br />

Nichterfüllung bestimmter Pflichten), Schädigung des staatlichen<br />

Wirtschaftssystems. Einbezogen waren aber auch „Vergehen,“<br />

die in demokratischen Staaten mit den elementaren menschlichen<br />

Grundrechten zu tun haben: die persönliche Meinungsäußerung,<br />

wenn sie im Widerspruch zur offiziellen Sicht steht; Beziehungen<br />

in kapitalistische Staaten ebenso wie die „Nichtmeldung“<br />

antisowjetischer Aktivitäten.<br />

Artikel 58 war der unter den Sowjets am häufigsten<br />

angewandte Paragraph des Strafgesetzbuches, wenn es um<br />

politische Anklagen und Urteile gegen die Bevölkerung<br />

Lettlands ging. Bei der Auslegung des Artikels waren den<br />

Organen der Sowjetmacht kaum Grenzen gesetzt. So konnten<br />

selbst volljährige Familienangehörige von Angeklagten<br />

belangt werden. Die Anschuldigungen hatten rückwirkenden<br />

Charakter – sie bezogen sich auch auf in die Zeit des unabhängigen<br />

lettischen Staates fallende oder noch länger zurückliegende<br />

„Vergehen.“<br />

Vom juristischen Standpunkt her wurden im Falle des besetzten<br />

Lettland Bestimmungen des Strafgesetzbuch eines fremden Staates<br />

auf die Bevölkerung angewandt, um ihnen „Vergehen“ anzulasten,<br />

die zeitlich vor der Besetzung und der Einführung des Gesetztes<br />

unter Besatzungsbedingungen lagen<br />

Auszug aus einem Gerichtsurteil: Jelena Gerasimowa wird von der Lettischen<br />

SSR nach Artikel 58 des Strafgesetzbuches der Russischen SFSR zu 25 Jahren Haft<br />

verurteilt.<br />

Die politische Gefangene Jelena<br />

Gerasimowa (erste Reihe, erste von links)<br />

mit Schicksalsgenossinnen im Jahr 1956.<br />

Deportations- und<br />

Umsiedlungspolitik<br />

Bereits seit dem 16. Jahrhundert war es im zaristischen russischen<br />

Reich üblich, sich Verbrechern, unliebsamer politischer Gegner<br />

oder unterjochter Völker durch Verbannung nach Sibirien zu<br />

entledigen. Unter Stalin wurden die Deportationen als alltägliche<br />

Form des Terrors zu einem unmittelbaren Vollzugsinstrument der<br />

totalitären Macht. Dieser Terror richtete sich zum Teil willkürlich<br />

in großem Maßstab gegen all jene, die als Gegner des Regimes<br />

oder als „Klassenfeinde“ gebranntmarkt waren, eingeschlossen<br />

Parteimitglieder, Künstler, Wissenschaftler, Schriftsteller,<br />

Unternehmer.<br />

Die Deportation ganzer Völker und sozialer Gruppen nach<br />

Sibirien und andere ausgedehnte Landesteile war kennzeichnend<br />

für das Stalinregime. So hatte man sich Ende der zwanziger<br />

und Anfang der dreißiger Jahre der sogenannten „Kulaken“<br />

(Großbauern) entledigt, die sich gegen den Eintritt in die Kolchosen<br />

gesträubt hatten und die in den vom Regime inszenierten<br />

Hungerkatastrophen in Weißrußland und der Ukraine am Leben<br />

geblieben waren. In der Zeit des „großen Terrors“ in den dreißiger<br />

Jahren wurden alte bolschewistische Parteikader – Weggefährten<br />

Lenins – wie auch Angehörige von Nachbarvölkern Rußlands, die<br />

auf russischem Staatsgebiet lebten, so auch Letten, und als nicht<br />

loyal eingestuft wurden, als „Verräter“ ermordet oder deportiert.<br />

Von 200.000 vor dem Krieg in Rußland lebenden Letten wurden<br />

70.000 verhaftet und etwa 14.000 erschossen.<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ Stalin viele Einwohner aus<br />

Gebieten, die während des Krieges unter deutscher Besetzung<br />

gestanden hatten, wegen vermeintlicher Kollaboration mit dem<br />

Feind deportieren. Auf diese Weise haben die Krimtataren ihre<br />

Heimat verloren. Ähnlich erging es den Tschetschenen, denen man<br />

vorwarf, auf die <strong>Deutsch</strong>en gewartet zu haben.<br />

Auch die Politik des Hitlerregimes sah langfristig eine<br />

Bevölkerungsverschiebung vor. In den Anfangsjahren des<br />

Naziregimes gab es Planspiele, alle Juden nach Madagaskar<br />

zwangsumzusiedeln. Himmlers Pläne für das Baltikum im<br />

Generalplan Ost sah die Umsiedlung der „minderwertigen“<br />

baltischen Völker nach Osten vor, um die Germanisierung und<br />

Kolonisierung des Ostlandes zu fördern.<br />

47

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!