OM Deutsch 2010 Internet-Ausgabe.pdf
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„Sowjetische Folklore“<br />
Die kommunistischen Ideologen unternahmen Versuche, die<br />
Ansichten bezüglich der Folklore zu revidieren: die bisher gängige<br />
Meinung, daß es in der lettischen Folklore unter den Letten<br />
keinen Antagonismus gegeben habe, sei falsch, denn unter dem<br />
Gesichtspunkt des Klassenkampfes „besteht ein ewiger Kampf<br />
sowohl gegen die deutschen Versklaver als auch gegen die eigenen<br />
Ausbeuter.“ Die Folklore sei „zur Idealisierung der Vergangenheit<br />
und zur beschränkten nationalistischen Propaganda mißbraucht“<br />
worden.<br />
Ende der vierziger Jahre wurde mit dem Sammeln „sowjetischer<br />
Folklore“ begonnen, die angeblich spontan im Volk zum Ausdruck<br />
kam. Das Folkloreinstitut der Akademie der Wissenschaften<br />
der LSSR gab Sammelbände mit den „neuesten [sowjetischen]<br />
Volksliedern“ heraus, in denen der Genosse Stalin und das<br />
Leben in der sowjetischen Gesellschaft besungen und verherrlicht<br />
werden, wie hier:<br />
Traktoristen, Bestarbeiter<br />
Läuten ein die Sonnenwende:<br />
An der Brust den Heldenstern,<br />
An den Mützen rote Nelken.<br />
Drescher, Kolchosbauern<br />
hab‘n die Klete vollgeschüttet:<br />
Kommt ein Wort noch in den Sinn<br />
Stalin – Dank.<br />
Der äußeren Form nach entsprechen diese Verse tatsächlich den<br />
Dainas – den traditionellen lettischen Volksliedern. Doch kommen<br />
in der traditionellen Folklore weder Traktoristen noch Orden vor,<br />
Buchdeckel<br />
der <strong>Ausgabe</strong><br />
Sowjetlettische<br />
Folklore.<br />
auch tragen die Männer zur Sonnenwendfeier, dem Johannisfest,<br />
keine roten Nelken, sondern traditionell Eichenlaubkränze auf<br />
dem Haupte. Nach der Ernte pflegte man dem „lieben Gott“ zu<br />
danken, nicht Stalin. Jahre später schränkte das Sowjetregime<br />
die Sonnenwendfeiern ein und verbot sie schließlich für einige<br />
Zeit ganz, in der Hoffnung diese alte und nach wie vor beliebte<br />
lettische Tradition auszutilgen.<br />
Jānis Endzelīns<br />
(1873–1961)<br />
Bezugnehmend auf den<br />
„genialen Beitrag des<br />
Genossen Stalin auf dem<br />
Felde der Sprachwissenschaft“<br />
sah sich der bedeutendste<br />
lettische Sprachwissenschaftler,<br />
Professor<br />
Jānis Endzelīns, schweren<br />
Vorwürfen der Kommunistischen<br />
Partei ausgesetzt: er<br />
halte seine wissenschaftlichen Vorlesungen zur Linguistik<br />
„in dem gleichen Geiste wie im faschistischen Lettland“ und<br />
suche formal nur nach Fehlern in den Entlehnungen aus dem<br />
Russischen und dem bolschewistischen Schrifttum. Viele<br />
bedeutende Wissenschaftler wurden auf ähnliche Weise<br />
kritisiert.<br />
Statistik der Lobpreisungen<br />
Stalins<br />
In den im Jahr 1948 erschienenen Gedichtbänden wurde<br />
Stalin von den Dichtern Jānis Plaudis 29 mal erwähnt, von<br />
Andrejs Balodis 28 mal, von Aleksandrs Čaks entsprechend<br />
23 und von Jānis Grots 21 mal.<br />
Sowjetische Geschichtsstunde,<br />
Teil 20<br />
Die Vereinnahmung von Literatur und Kunst durch die<br />
Kommunistische Ideologie klingt in der Geschichte der<br />
Lettischen SSR so: „Der Kampf um Parteinahme in der Kunst,<br />
für aktuelle Thematiken und die Nähe der Literatur zum<br />
Alltagsleben, ihr inhaltlicher Ideengehalt war eng verbunden<br />
mit der Forderung nach künstlerisch vollwertiger Form<br />
und Ausdrucksweise. Die Literaten hatten in jener Zeit so<br />
manche ‚Kinderkrankheit‘ zu überwinden, Mißerfolge, eine<br />
unzureichende Auseinandersetzung mit den abzubildenden<br />
Erscheinungen, Phrasenhaftigkeit, Schemaabhängigkeit und<br />
Deklarativismus. [...] Im Anschluß an die zwischen 1946<br />
und 1948 vom ZK der Allunions-KP (Bolschewiki) gefaßten<br />
Beschlüsse, wurde in ideologischen Fragen der Kampf gegen<br />
eine ideenlose und apolitische Literatur und Kunst sowie<br />
gegen bourgeoise ideologische Überbleibsel verschärft.“<br />
(Band 2, S. 299)<br />
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