OM Deutsch 2010 Internet-Ausgabe.pdf
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Staatsanwaltschaft und die Gerichte konnten unter den<br />
neuen Verhältnissen nicht plötzlich zu unabhängigen<br />
Verteidigern der Bürgerrechte werden. Infolgedessen<br />
blieben auf der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen<br />
Werteskala in Lettland große Gegensätze bestehen – ein<br />
Erbe des Zusammenbruchs des Sowjetsystems. So gibt es<br />
Menschen, die (selten auf legale Weise) steinreich geworden<br />
sind und auch weiterhin ihre Taschen füllen, während sehr<br />
viele um ihr tägliches Auskommen zu kämpfen haben. Mit<br />
dem Beitritt Lettlands zur Europäischen Union und den<br />
sich damit eröffnenden Möglichkeiten, legal im Ausland zu<br />
arbeiten, verließen und verlassen viele Letten ihre Heimat<br />
in der Hoffnung auf ein besseres Leben. In Lettland gibt<br />
es praktisch keine materiell gesicherte und gutausgebildete<br />
Mittelschicht, die die kulturellen und moralischen Standards<br />
in der Gesellschaft bestimmen könnte.<br />
Die langen Jahre der Abhängigkeit haben die Fähigkeiten<br />
der Menschen, neue, ehrliche und offene Beziehungen in<br />
einem freien demokratischen Umfeld aufzubauen, negativ<br />
beeinflußt. Mißtrauen, Gleichgültigkeit gegenüber Neuem,<br />
persönliche Verschlossenheit, ein Sich-bedroht-Fühlen durch<br />
alles Neue – auch durch die westliche Welt – sind einige der<br />
Nachwirkungen der langen Unterdrückung. Viele Letten<br />
fühlen sich gesellschaftlich machtlos. Wegen mangelnder<br />
Erfahrung fehlt es an gesellschaftlichem Führungs- und<br />
Organisationstalent.<br />
Gesellschaftliche Organisationen bildeten sich zunächst<br />
eher nicht aus einer gesellschaftlichen Notwendigkeit heraus,<br />
sondern vielmehr durch Anregung und Finanzierung von<br />
außen. Statt Probleme im gemeinschaftlichen Konsens<br />
anzugehen, wird die öffentliche Meinung von einem<br />
allumfassenden „Schubladendenken“ und Intoleranz<br />
beherrscht. Es gibt zu wenig konstruktiven Dialog und<br />
Zusammenarbeit zwischen Gesellschaft und Politik. Die<br />
politischen Parteien vertreten eher engstirnige wirtschaftliche<br />
und politische Interessen, als dass sie für die Belange der<br />
Gesellschaft Sorge trügen. Mit denselben althergebrachten<br />
politischen Köpfen entstehen und mutieren die Parteien<br />
zu immer neuen politischen Gebilden. Ein Vertrauen zu<br />
staatlichen Institutionen fehlt. Viele erwarten noch immer<br />
aus den Reihen der Politik eine „Führerfigur“ – einen Retter.<br />
Darüber hinaus kann man sagen, daß die gesellschaftliche<br />
Aktivität ähnlich wie Ende der achtziger Jahre viel eher<br />
von Protesten gegen Unannehmbares und Unpopuläres<br />
bestimmt wird, als vom Vermögen, Zukunftsperspektiven<br />
klar zu formulieren und dem konstruktiven Willen, diese<br />
aus eigener Kraft zu realisieren. Zwanzig Jahre nach der<br />
Wiederherstellung der Unabhängigkeit sind viele enttäuscht<br />
von ihrem Staat und der Unfähigkeit, eine Besserung<br />
herbeizuführen.<br />
Nach wie vor wird die Entwicklung der Gesellschaft<br />
belastet von der großen Zahl derjenigen Zuwanderer aus der<br />
Sowjetzeit, die die lettische Sprache nicht beherrschen und<br />
denen lettische Kulturtraditionen fremd bleiben. Programme<br />
zur Förderung der gesellschaftlichen Integration haben<br />
nicht die erhofften Ergebnisse gebracht. Auch wenn die<br />
Zahl der Einbürgerungen inzwischen stetig steigt und die<br />
Lettischkenntnisse der einstigen Zuwanderer sich verbessern,<br />
war dies doch ein langwieriger und zäher Prozeß. In Lettland<br />
gibt es nach wie vor viele sogenannte „Nichtstaatsbürger.“<br />
Zu einem effektiven interkulturellen Dialog, besonders in<br />
den größeren Städten, in denen Letten in der Minderheit<br />
sind, kam es nicht. Die politischen Parteien unterscheiden<br />
sich noch immer durch das Nationalitätenprinzip: lettische<br />
Parteien sind eher rechtsorientiert, russische, die von<br />
vielen Letten als Erfüllungsgehilfen der Politik Rußlands<br />
angesehen werden, eher linksorientiert. Das Verhältnis<br />
wird zusätzlich belastet durch den propagandistischen<br />
Vorwurf von Menschenrechtsverletzungen in Lettland,<br />
den sowohl Rußland als auch Vertreter der in Lettland<br />
lebenden russischen Minderheit immer wieder erheben.<br />
Sie betrachten die nicht automatische Zuerkennung der<br />
lettischen Staatsbürgerschaft an Zuwanderer der Sowjetzeit<br />
und die Nichteinführung des Russischen als zweite<br />
Amtssprache in Lettland als Menschenrechtsverletzungen.<br />
Dieser Anspruch wurde international zurückgewiesen,<br />
doch seine Aufrechterhaltung sorgt für Spannungen und<br />
behindert den Naturalisierungsprozeß. Zudem wird die<br />
Lage aufgeheizt durch marginale lautstarke Gruppierungen<br />
auf beiden Seiten, die obwohl klein, dennoch häufig die<br />
Sprengung der strategischen<br />
sowjetischen Radarstation im<br />
westlettischen Skrunda am 4.<br />
Mai 1995. Foto: Jānis Blūms.<br />
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