OM Deutsch 2010 Internet-Ausgabe.pdf
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Der entscheidende Schritt der<br />
künstlerischen und intellektuellen<br />
Elite<br />
Die künstlerische und intellektuelle Elite Lettlands reagierte auf<br />
die Demonstrationen der Bevölkerung zunächst zurückhaltend,<br />
doch ihr Zusammengehen mit der Volksbewegung war letztendlich<br />
entscheidend. Lange Zeit hatten die Mitglieder der sogenannten<br />
Verbände der Kulturschaffenden, darunter zahlreiche Mitglieder<br />
der Kommunistischen Partei, wie auf Messers Schneide versucht,<br />
in ihren Werken die ideologischen Forderungen der Partei, die von<br />
ihr oktroyierten Auflagen, aber auch ihre materielle Unterstützung<br />
in Einklang zu bringen mit ihrer lettischen Überzeugung und<br />
dem Drang nach künstlerischer Freiheit. Dies war ein schlechter<br />
Kompromiß mit der persönlichen Integrität, der von einem großen<br />
Teil der Bevölkerung, aber längst nicht von allen, verstanden und<br />
akzeptiert wurde. Auf dem erweiterten Plenum des Lettischen<br />
Schriftstellerverbandes im Juni 1988 zerrissen die künstlerischen<br />
Eliten das Band mit der ideologischen Führerschaft der Partei und<br />
leiteten breite öffentliche Debatten über existenzielle Fragen des<br />
lettischen Volkes und die historische Wahrheit ein.<br />
Dem Vorstandsvorsitzenden des Lettischen Schriftstellerverbandes<br />
und Politbüromitglied der LKP, dem populären Dichter Jānis Peters<br />
(geb. 1939), kam 1988 eine wichtige und einflußreiche Rolle zu. Auf<br />
seine Anregung hin wurde 1988 das Plenum des Schriftstellerverbandes<br />
durchgeführt. Einen unbestreitbar entscheidenden Anteil hatte Peters<br />
auch bei der Gründung der Lettischen Volksfront (LTF), und so<br />
wurde er rasch zu einem populären Politiker in Lettland. Deshalb<br />
waren viele überrascht und enttäuscht, als er es ablehnte, für den<br />
Vorsitz in der LTF zu kandidieren. Peters und anderen Vertretern<br />
der Intelligenz, die versucht hatten, mit dem bestehenden System<br />
auszukommen, wurde später gelegentlich vorgeworfen, sowohl unter<br />
den Kommunisten als auch in der Zeit der großen Umgestaltung<br />
ihr Fähnchen nach der jeweiligen politischen Konjunktur gerichtet<br />
zu haben. Dennoch blieb Peters beim Volk hochangesehen, und<br />
man betrachtete ihn als vertrauenswürdig. 1989 wurde er in den<br />
Volksdeputiertenkongreß der UdSSR gewählt, später war er<br />
Botschafter der wiederhergestellten Republik Lettland in Moskau.<br />
Im 1990 gewählten Obersten Sowjet der Lettischen SSR, der die<br />
Unabhängigkeit proklamierte, waren zahlreiche bekannte Vertreter<br />
der künstlerischen Elite vertreten, darunter der Schriftsteller Alberts<br />
Bels, der Dichter Imants Ziedonis und die Komponisten Imants<br />
Kalniņš und Raimonds Pauls.<br />
Eine wichtige Rolle in den Zeiten von Glasnost und Perestroika<br />
spielten auch die künstlerischen Eliten in Rußland und anderen<br />
Sowjetrepubliken, mit deren Vertretern die lettische Intelligenz<br />
seit langem freundschaftliche Kontakte unterhielt, die von<br />
gegenseitigem Verständnis geprägt waren. Auch andernorts in<br />
der Sowjetunion hatten Schriftsteller, Künstler, Komponisten und<br />
andere Kulturschaffende versucht, sich mehr oder minder mit der<br />
herrschenden Ideologie und Staatsmacht zu arrangieren. Als der<br />
größte Teil der Intelligenz im gesamten Sowjetstaat sich in der<br />
zweiten Hälfte der achtziger Jahre für die künstlerische Freiheit und<br />
die nationale Kultur entschied, verlor die Kommunistische Partei<br />
eine ihrer wichtigsten ideologischen Stützen.<br />
Anerkennung der Okkupation als<br />
Faktum<br />
Die Rede des Journalisten Mavriks Vulfsons (1918–2004) auf dem<br />
erweiterten Plenum des Lettischen Schriftstellerverbandes vom<br />
1. und 2. Juni 1988, in der er äußerte, daß faktisch eine Okkupation<br />
stattgefunden habe, sorgte für besondere Aufmerksamkeit, denn<br />
diese Feststellung definierte die Zielsetzung der Volksbewegung –<br />
die Wiederherstellung der historischen Wahrheit. Bezeichnend ist<br />
sowohl Mavriks Vulfsons als Persönlichkeit als auch die seiner<br />
Rede entspringende politische und historische Interpretation.<br />
• Vulfsons war ein betagter, überzeugter und treuer Kommunist,<br />
ein Augenzeuge der Ereignisse von 1940, Teilnehmer des Großen<br />
Vaterländischen Krieges, Dozent für Marxismus-Leninismus<br />
an der Staatlichen Kunstakademie Lettlands und ein beliebter<br />
politischer Kommentator. Sein Bekenntnis, daß 1940 eine<br />
Besetzung Lettlands stattgefunden habe, bedeutete die Entlarvung<br />
und Negation einer kommunistischen Propagandalüge. Viele<br />
Kommunisten waren zu solchen Eingeständnissen noch nicht<br />
bereit, doch Vulfsons’ Vorbild ermutigte sie allmählich, die<br />
Lügen der kommunistischen Propaganda zu erkennen und ihre<br />
Zugehörigkeit zur Partei in Frage zu stellen. Obwohl Vulfsons zu<br />
einem weithin bekannten Volkshelden wurde, warfen Kritiker ihm<br />
vor, vor dem Hintergrund des politischen Umgestaltungsprozesses<br />
sein Fähnchen nach dem Wind auszurichten.<br />
• Die Anerkennung der Okkupation als Faktum brachte die offizielle<br />
sowjetische Geschichtsinterpretation mit ihrer Behauptung, daß<br />
1940 in Lettland eine sozialistische Revolution stattgefunden<br />
habe und ein freiwilliger, vom Volk gewünschter Beitritt zur<br />
Sowjetunion erfolgt sei, zum Zusammenbruch. Sie bedeutete<br />
auch, daß die kommunistische Machtübernahme 1940 illegal<br />
gewesen war und die Forderungen nach einer Wiederherstellung<br />
der staatlichen Unabhängigkeit Lettlands vollauf begründet<br />
waren.<br />
• Als politisch und historisch bedeutsam erwies sich die öffentlich<br />
zur Sprache gebrachte Verbindung der Okkupation mit den<br />
geheimen Zusatzprotokollen des Hitler-Stalin-Paktes vom<br />
23. August 1939, deren Inhalt zwar bekannt war, deren Existenz<br />
die UdSSR jedoch offiziell bis zum August 1989 verneinte. Die<br />
Geheimprotokolle wurden auf dem Volksdeputiertenkongreß der<br />
UdSSR im Dezember 1989 für rechtswidrig und ungültig vom<br />
Zeitpunkt ihrer Unterzeichnung an erklärt. Die Verbindung der<br />
Okkupation mit den Geheimen Zusatzprotokollen untermauert<br />
das Argument des Kontinuitätsprinzips der lettischen Staatlichkeit<br />
und Geschichte.<br />
Die Russische Föderation und Boris<br />
Jelzin<br />
Außerordentlich wichtig für den Umgestaltungsprozeß war<br />
das Eingreifen der Russischen Föderation und Boris Jelzins.<br />
Innerhalb der Verwaltungsstruktur der Sowjetunion hatte die<br />
Russische Föderation, obwohl Kernland der UdSSR, gegenüber<br />
anderen Sowjetrepubliken eine untergeordnete Bedeutung. Michail<br />
Gorbatschow hatte Jelzin 1987 als Parteichef von Moskau ablösen<br />
lassen, doch im Mai 1990 wurde er zum Vorsitzenden des<br />
Präsidiums des Obersten Sowjets der Russischen Föderation<br />
gewählt. Nach dem Vorbild Estlands, Litauens und Lettlands<br />
verkündete die Russische Föderation, die sich ebenfalls von der<br />
Vormundschaft der UdSSR freimachen wollte, im Juni 1990 ihre<br />
Souveränität. Am 12. Juni 1991 wurde Jelzin durch demokratische<br />
Wahlen zum ersten Präsidenten der Russischen Föderation.<br />
Bereits als Vertreter souveräner Staaten trafen sich Delegationen<br />
aus Rußland und den baltischen Staaten im Juli 1990 in Jūrmala,<br />
um über den Abschluß wichtiger gegenseitiger Verträge zu beraten.<br />
Außerordentlich bedeutsam war die Unterstützung Boris Jelzins<br />
für die baltischen Staaten im Januar 1991, als sowjetische Militärs<br />
in Litauen und Lettland gewaltsam versuchten, einen Umsturz<br />
herbeizuführen. Am Ausgang der bald darauf folgenden Ereignisse, die<br />
im Zusammenbruch der UdSSR und der vollständigen Unabhängigkeit<br />
der ehemaligen Sowjetrepubliken mündeten, hatten Jelzin und die von<br />
ihm geführte Russische Föderation entscheidenden Anteil.<br />
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