Schutzlos hinter Gittern Abschiebungshaft in Deutschland - Pro Asyl
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• Sachsen-Anhalt: Wird e<strong>in</strong>e besondere Hilfs- oder Schutzbedürftigkeit<br />
festgestellt, wird darauf adäquat reagiert,<br />
u.a. durch ärztliche und psychologische Behandlungen,<br />
Gespräche mit dem Sozialarbeiter, die Vermittlung an<br />
Hilfsorganisationen, die besondere Ausstattung von<br />
Hafträumen und die Verabreichung besonderer Kostformen<br />
(z.B. Magenschonkost, vegetarische Kost).<br />
• Schleswig-Holste<strong>in</strong>: Beachtlichen Vorträgen von gesundheitlicher<br />
Bee<strong>in</strong>trächtigung muss <strong>in</strong> jedem Stadium<br />
der Abschiebung nachgegangen werden, auch während<br />
der <strong>Abschiebungshaft</strong>. Liegen H<strong>in</strong>weise auf gesundheitliche<br />
Bee<strong>in</strong>trächtigungen – <strong>in</strong>sbesondere Traumatisierungen<br />
– vor, ohne dass diese zur Haftunfähigkeit oder<br />
zu e<strong>in</strong>em zielstaatsbezogenen Abschiebungs- bzw. <strong>in</strong>landsbezogenen<br />
Vollstreckungsh<strong>in</strong>dernis führen, ist die<br />
Hafte<strong>in</strong>richtung hierüber zu unterrichten.<br />
• Thür<strong>in</strong>gen: Während des Aufnahmeverfahrens werden<br />
die Häftl<strong>in</strong>ge der Anstaltsärzt<strong>in</strong> vorgestellt. Weiterh<strong>in</strong><br />
gibt es e<strong>in</strong> Erstgespräch mit e<strong>in</strong>em Mitarbeiter des Sozialdienstes.<br />
Falls e<strong>in</strong>e Verständigung nicht möglich ist,<br />
werden Mit<strong>in</strong>haftierte oder Dolmetscher h<strong>in</strong>zugezogen.<br />
Offensichtlich führt dieses Screen<strong>in</strong>g aber nicht zur Identifizierung<br />
der <strong>in</strong> Rede stehenden Personengruppe. In allen Gesprächen<br />
wurde uns mitgeteilt, dass traumatisierte Personen<br />
im Vollzugsalltag ke<strong>in</strong>e Rolle spielen würden. Sie kämen so<br />
gut wie nicht vor. 55<br />
Diese E<strong>in</strong>schätzung belegt auch e<strong>in</strong> Papier des Runden<br />
Tisch Ingelheim zum <strong>Abschiebungshaft</strong>vollzug <strong>in</strong> Rhe<strong>in</strong>land-<br />
Pfalz: 56<br />
„Während e<strong>in</strong>er Anhörung im Rahmen der Arbeit der AG 2 wurde<br />
festgestellt, dass <strong>in</strong> der Zeit von Januar 2009 bis heute [Mitte<br />
2012] 25 Patient<strong>in</strong>nen oder Patienten aus der Gewahrsamse<strong>in</strong>richtung<br />
für Ausreisepflichtige (GfA) <strong>in</strong> die Rhe<strong>in</strong>hessen-Fachkl<strong>in</strong>ik<br />
verbracht wurden (2009: 10 Personen, 2010: 7 Personen, 2011:<br />
8 Personen), wovon bei 7 Personen Traumatisierungen diagnostiziert<br />
werden konnten. Mit Blick auf die <strong>in</strong> diesem Zeitraum <strong>in</strong><br />
der GfA aufgenommene Gesamtzahl von 874 Personen bedeutete<br />
dies, dass bei 0,8 % der aufgenommenen Personen e<strong>in</strong>e bestehende<br />
Traumatisierung festgestellt wurde. Die AG kam daher<br />
zum Ergebnis, dass davon ausgegangen werden muss, dass die<br />
tatsächliche Zahl höher liegt.“ 57<br />
Die Gründe für diese offensichtliche Diskrepanz s<strong>in</strong>d vielfältig.<br />
Das Aufnahmeverfahren ist <strong>in</strong> den jeweiligen Haftanstalten<br />
qualitativ sehr unterschiedlich. Es reicht von ausführlichen<br />
Aufnahmegesprächen durch Sozialarbeiter und Ärzte mit<br />
Dolmetschern (nicht die Regel) bis zu e<strong>in</strong>er Art Registrierung<br />
von Name und Herkunft durch Bedienstete der Haftanstalt<br />
mit Hilfe von „Händen und Füßen“. E<strong>in</strong>e Art Screen<strong>in</strong>g bzgl.<br />
Traumatisierung/psychischen Erkrankungen f<strong>in</strong>det <strong>in</strong> der<br />
Regel nicht statt. Dies ist auch nicht erwünscht und hätte<br />
hafttechnisch auch ke<strong>in</strong>e Auswirkungen, da Traumatisierungen/psychische<br />
Erkrankungen per se – nach herrschender<br />
Me<strong>in</strong>ung <strong>in</strong> den Haftanstalten – nicht zur Haftunfähigkeit<br />
führen. Darüber h<strong>in</strong>aus s<strong>in</strong>d die beteiligten Personen, die für<br />
die Aufnahme der Betroffenen zuständig s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> der Regel<br />
nicht dafür ausgebildet, entsprechende Krankheiten überhaupt<br />
zu erkennen, wenn sie es denn wollten. Es kann also<br />
– im Gegensatz zur Darstellung <strong>in</strong> der großen Anfrage – nicht<br />
davon ausgegangen werden, dass Traumatisierungen/psychische<br />
Erkrankungen wirklich <strong>in</strong> dem Maße vor bzw. bei der<br />
Aufnahme abgeprüft werden. Hier spielt auch die sprachliche<br />
Verständigung e<strong>in</strong>e weitere erhebliche Rolle. Wie schon<br />
beschrieben, werden Dolmetscher sehr spärlich <strong>in</strong> den Haftanstalten<br />
e<strong>in</strong>gesetzt. Es wird vielfach auf Mit<strong>in</strong>haftierte oder<br />
Bewachungspersonal mit entsprechenden Sprachkenntnissen<br />
zurückgegriffen. Oder aber man verzichtet ganz auf Dolmetscher,<br />
wie die Beispiele der <strong>Abschiebungshaft</strong>anstalten<br />
<strong>in</strong> Bützow, Eisenhüttenstadt oder Mannheim belegen. Dann<br />
aber wird eben auch die Erhebung solch komplizierter Sachverhalte<br />
schwierig bzw. unmöglich.<br />
Neben der oft nicht vorhandenen Möglichkeit, entsprechende<br />
Erkrankungen feststellen zu können, wurde <strong>in</strong> den Gesprächen<br />
auch immer wieder deutlich, dass ke<strong>in</strong> Interesse daran<br />
besteht, sich ernsthaft mit den psychischen Erkrankungen<br />
wie PTBS zu befassen. Wenn Auffälligkeiten beobachtet werden,<br />
dann wird dies vielfach primär auf die allgeme<strong>in</strong>e, psychische<br />
Belastung der Gefängnissituation oder die Angst vor<br />
der Abschiebung zurückgeführt.<br />
Die Interessenlage wurde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em der geführten Gespräche<br />
von verantwortlicher Seite auf den Punkt gebracht: „Wenn man<br />
Psychiater heranziehen würde und Insassen ständig überweisen<br />
würde, dann müssten ja ständig die Flüge storniert werden.“<br />
Vielfache Konsequenz daraus ist, dass entsprechende Anzeichen<br />
nicht (richtig) gedeutet werden. So lange die Person<br />
ruhig ist und sich nicht nachhaltig auffällig verhält, gibt es<br />
seitens der beteiligten Stellen regelmäßig ke<strong>in</strong> Interesse, sich<br />
näher mit der <strong>in</strong>haftierten Person im H<strong>in</strong>blick auf ihren Gesundheitszustand<br />
zu beschäftigen.<br />
Traumatisierungen/psychische Erkrankungen haben, wie<br />
schon erwähnt, <strong>in</strong> der derzeitigen Praxis regelmäßig ke<strong>in</strong>e<br />
Konsequenzen bzgl. der zugesprochenen Haftfähigkeit, es<br />
sei denn, es wird e<strong>in</strong>e akute Möglichkeit der Fremd- oder<br />
Eigengefährdung festgestellt oder es kommt zu schweren<br />
Krisen, die z.B. e<strong>in</strong>e stationäre Krankenhausunterbr<strong>in</strong>gung<br />
erforderlich machen. Aber auch dort wird den betroffenen<br />
Personen nur e<strong>in</strong>e Krisen<strong>in</strong>tervention und Stabilisierung der<br />
psychischen Verfassung zuteil, bis sie wieder soweit herge-<br />
55. Dies wird auch durch die Ausführungen <strong>in</strong> der Großen Anfrage von BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-<br />
NEN bestätigt. S. 80 – 86.<br />
56. Runder Tisch Ingelheim. Arbeitsgruppe 2: „Rahmenbed<strong>in</strong>gungen der Unterbr<strong>in</strong>gung“.<br />
Traumatisierung, S. 3.<br />
57. Im genannten Zeitraum wurden zusätzlich noch drei Inhaftierte unabhängig untersucht. In<br />
allen drei Fällen kamen die Gutachter zu dem Ergebnis, dass schwerwiegende Traumatisierungen<br />
vorlagen.