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Schutzlos hinter Gittern Abschiebungshaft in Deutschland - Pro Asyl

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28<br />

6.3 Suizide <strong>in</strong> <strong>Abschiebungshaft</strong><br />

Viele Abschiebungshäftl<strong>in</strong>ge s<strong>in</strong>d verzweifelt darüber, dass sie<br />

wie Straftäter e<strong>in</strong>gesperrt werden. Die bevorstehende Abschiebung<br />

löst Schamgefühle gegenüber ihrer Familie und den Angehörigen<br />

im Herkunftsland aus. <strong>Abschiebungshaft</strong> an sich fügt<br />

den betroffenen Personen auch ohne e<strong>in</strong>e entsprechende Ausgangssituation<br />

erhebliches psychisches und physisches Leid zu.<br />

Dies belegen die Ergebnisse e<strong>in</strong>er europaweiten Studie des Jesuiten<br />

Flüchtl<strong>in</strong>gsdienstes aus dem Jahr 2010: 61 Die negativen<br />

Effekte auf die körperliche und seelische Gesundheit treten bereits<br />

nach vergleichsweise kurzer Zeit e<strong>in</strong>. Auslöser s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>sbesondere<br />

die pr<strong>in</strong>zipielle Unsicherheit über die Dauer der Inhaftierung,<br />

Isolation von der Außenwelt und die Stigmatisierung<br />

als verme<strong>in</strong>tliche Krim<strong>in</strong>elle. 62 Die Mischung aus enttäuschten<br />

Hoffnungen, Angst und Scham setzt Abschiebungsgefangene<br />

unter e<strong>in</strong>en immensen Psychostress. 63 Depressionen bis h<strong>in</strong> zur<br />

Suizidalität können die Folge se<strong>in</strong>.<br />

Die „Antirassistische Initiative Berl<strong>in</strong>“ dokumentiert seit Jahren<br />

Todesfälle, die im Zusammenhang mit Abschiebungen<br />

aus <strong>Deutschland</strong> stehen. Darunter s<strong>in</strong>d auch 62 Personen, die<br />

sich <strong>in</strong> den Jahren 1993 – 2010 <strong>in</strong> deutscher <strong>Abschiebungshaft</strong><br />

selbst töteten. 64 Die Dunkelziffer an Selbstmordversuchen <strong>in</strong><br />

Haft dürfte um e<strong>in</strong> Vielfaches höher se<strong>in</strong>.<br />

Suizide <strong>in</strong> <strong>Abschiebungshaft</strong> – e<strong>in</strong>ige Fälle der letzten Jahre:<br />

• Mustafa Alcali hat sich am 27.06.2007 <strong>in</strong> der Justizvollzugsanstalt<br />

Preungesheim/Frankfurt am Ma<strong>in</strong> <strong>in</strong> der <strong>Abschiebungshaft</strong><br />

das Leben genommen. Er erhängte sich<br />

an se<strong>in</strong>em T-Shirt. Der pensionierte Facharzt für Psychiatrie<br />

(Dr. He<strong>in</strong>rich W.) hatte auf der Grundlage e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zelnen<br />

diagnostischen Gesprächs bestritten, dass Mustafa<br />

Alcali suizidal sei, sondern stellte <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Gutachten<br />

zur “Reisefähigkeit” dessen psychische Erkrankung generell<br />

<strong>in</strong> Abrede. Mit den Ärzten, die Mustafa Alcali <strong>in</strong><br />

Hanau wochenlang behandelt hatten, nahm der Psychiater<br />

ke<strong>in</strong>en Kontakt auf. Das Gutachten führte dazu, dass<br />

Mustafa Alcali am 22.06.2007 zur Vollstreckung der Abschiebung<br />

<strong>in</strong> die Justizvollzugsanstalt Frankfurt gebracht<br />

wurde. Dort nahm er sich am 27.06.2007 das Leben.<br />

• Am 7. März 2010 erhängte sich der 25-jährige georgische<br />

Abschiebungshäftl<strong>in</strong>g David M. im Zentralkrankenhaus<br />

für Häftl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> Hamburg. Anstaltspsychologen hatten<br />

mit dem Häftl<strong>in</strong>g, dem die Zurückschiebung nach Polen<br />

drohte, Gespräche geführt und e<strong>in</strong>e Suizidgefahr nicht<br />

ausgeschlossen. Er erhängte sich <strong>in</strong> der Video-überwachten<br />

Krankenzelle.<br />

• Nach achtwöchiger <strong>Abschiebungshaft</strong> erhängte sich am<br />

16. April 2010 die 34 Jahre alte <strong>in</strong>donesische Staatsbürger<strong>in</strong><br />

Yeni P., die mit Unterbrechungen seit 1994 <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong><br />

lebte, <strong>in</strong> der Justizvollzugsanstalt Hahnöfersand <strong>in</strong><br />

Hamburg.<br />

• Am 28. Juni 2010 wurde Slawik C. im Kreishaus <strong>in</strong> W<strong>in</strong>sen<br />

festgenommen und <strong>in</strong> <strong>Abschiebungshaft</strong> nach Hannover-Langenhagen<br />

gebracht. Dort erhängt sich der 58<br />

Jahre alte Mann, der seit fast elf Jahren mit Ehefrau und<br />

Sohn <strong>in</strong> Jesteburg lebte, am 2. Juli. Die Inhaftierung erfolgte,<br />

als Slawik C. bei der Ausländerbehörde vorsprach,<br />

um se<strong>in</strong>e Duldung zu verlängern. Die Abschiebung sollte<br />

unter Inkaufnahme e<strong>in</strong>er Trennung von se<strong>in</strong>er Frau<br />

erfolgen, für die bis heute ke<strong>in</strong> Passpapier vorliegt. Slawik<br />

C. erhielt lediglich Beruhigungsmittel. Es fehlte e<strong>in</strong>e<br />

fachkundige mediz<strong>in</strong>ische Begleitung, welche die akute<br />

Suizidalität des Flüchtl<strong>in</strong>gs erkannt hätte. Zwei Tage vor<br />

se<strong>in</strong>em Suizid wurde er unter besondere Beobachtung<br />

gestellt und verletzte sich dort bereits selbst an den Armen<br />

und am Kopf, kehrte am folgenden Tag jedoch <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>e Zelle zurück. Es fehlte offenbar e<strong>in</strong>e fachkundige<br />

mediz<strong>in</strong>ische Betreuung, die die akute Selbstmordgefährdung<br />

des Flüchtl<strong>in</strong>gs erkannt und zu e<strong>in</strong>er Haftentlassung<br />

hätte führen können.<br />

Bei jedem neu bekannt werdenden Suizid <strong>in</strong> der <strong>Abschiebungshaft</strong><br />

gibt es lediglich Betroffenheitsbekundungen und<br />

Lippenbekenntnisse seitens der Verantwortlichen. Diesen steht<br />

ke<strong>in</strong>e adäquate Bereitschaft gegenüber, notwendige Reformen<br />

durchzuführen. Nach wie vor ist die <strong>Abschiebungshaft</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> ke<strong>in</strong>eswegs die ultima ratio zur Durchsetzung<br />

e<strong>in</strong>er bestehenden Ausreisepflicht. Sie wird noch immer zu<br />

schnell beantragt und oft nach oberflächlicher richterlicher<br />

Prüfung verhängt, ohne dass Alternativen überhaupt geprüft<br />

werden – mit tragischen Konsequenzen.<br />

Graffiti im ehemaligen Polizeigefängnis Klapperfeld <strong>in</strong> Frankfurt am Ma<strong>in</strong>,<br />

das von den 1980er-Jahren bis vermutlich 2003 als Abschiebungsgewahrsam<br />

genutzt wurde. Um den Erhalt des Klapperfelds als Geschichtsort bemüht<br />

sich die Initiative „Faites votre jeu!“.<br />

© PRO ASYL/ Angelika Calmez<br />

61. Jesuiten Flüchtl<strong>in</strong>gsdienst <strong>Deutschland</strong>, Quälendes Warten – Wie <strong>Abschiebungshaft</strong> Menschen<br />

krank macht, Berl<strong>in</strong> 2010.<br />

62. Jesuiten-Flüchtl<strong>in</strong>gsdienstes, Quälendes Warten,Wie <strong>Abschiebungshaft</strong> Menschen krank<br />

macht, 2010.<br />

63. Kai Weber, Suizid <strong>in</strong> <strong>Abschiebungshaft</strong>, Grundrechte-Report 2011, S. 61 ff.<br />

64. Antirassistische Initiative Berl<strong>in</strong>, Dokumentation „Bundesdeutsche Flüchtl<strong>in</strong>gspolitik und ihre<br />

tödlichen Folgen“.

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