Schutzlos hinter Gittern Abschiebungshaft in Deutschland - Pro Asyl
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Rechtlich handelt es sich hier also um e<strong>in</strong>e Ermächtigung<br />
zum Grundrechtse<strong>in</strong>griff – der Freiheitsentziehung – jedoch<br />
nicht um e<strong>in</strong>e Verpflichtung.<br />
Als zentrales Argument ist Artikel 4 der Rückführungsrichtl<strong>in</strong>ie<br />
heranzuziehen, wonach die Mitgliedstaaten das Recht<br />
haben, „Vorschriften zu erlassen oder beizubehalten, die für Personen,<br />
auf die die Richtl<strong>in</strong>ie Anwendung f<strong>in</strong>det, günstiger s<strong>in</strong>d,<br />
sofern diese Vorschriften mit der Richtl<strong>in</strong>ie im E<strong>in</strong>klang stehen.“<br />
Der Verzicht auf <strong>Abschiebungshaft</strong> wäre e<strong>in</strong>e solche günstigere<br />
Regelung, die der Richtl<strong>in</strong>ie nicht widerspricht, da diese<br />
ja nur die Erlaubnis, jedoch nicht die Verpflichtung zur Inhaftierung<br />
vorsieht.<br />
In ähnlicher Weise erlaubt die Aufnahmerichtl<strong>in</strong>ie die Inhaftierung<br />
von <strong>Asyl</strong>antragstellern, ohne dies als verpflichtendes<br />
<strong>Pro</strong>gramm vorzugeben. „In Fällen, <strong>in</strong> denen es erforderlich ist,<br />
dürfen die Mitgliedstaaten auf der Grundlage e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>zelfallprüfung<br />
den Antragsteller <strong>in</strong> Gewahrsam nehmen, wenn sich<br />
weniger e<strong>in</strong>schneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden<br />
lassen.“ Und auch hier wurde wiederum <strong>in</strong> Artikel 4 e<strong>in</strong>e<br />
Klausel e<strong>in</strong>gefügt, wonach zugunsten des <strong>Asyl</strong>suchenden<br />
e<strong>in</strong>e günstigere Behandlung möglich ist. Daraus folgt, dass<br />
die Abschaffung der <strong>Abschiebungshaft</strong> mit dem EU-Recht <strong>in</strong><br />
E<strong>in</strong>klang stehen würde.<br />
4. Fehlende Gesetzesgrundlage für den Vollzug<br />
Auf verfassungsrechtlich wackeligen Füßen steht die <strong>Abschiebungshaft</strong><br />
<strong>in</strong> vielen Bundesländern, weil diese ke<strong>in</strong>e<br />
eigenständige Rechtsgrundlage für den Vollzug der <strong>Abschiebungshaft</strong><br />
vorsehen. Lediglich <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, Brandenburg und Bremen<br />
existiert e<strong>in</strong> spezielles Vollzugsgesetz. In allen anderen<br />
Ländern wird das Strafvollzugsgesetz 23 für analog anwendbar<br />
erklärt. Daneben regelt auf Bundesebene § 62a AufenthG<br />
wenige Fragen des Vollzugs der <strong>Abschiebungshaft</strong>. Der Regelungsumfang<br />
fällt deswegen so ger<strong>in</strong>g aus, da hier nur die<br />
verpflichtenden Bestimmungen der Rückführungsrichtl<strong>in</strong>ie<br />
<strong>in</strong>s nationale Recht umgesetzt wurden. Insgesamt lässt sich<br />
feststellen, dass es an e<strong>in</strong>er eigenständigen – umfassenden –<br />
Regelung des <strong>Abschiebungshaft</strong>vollzuges <strong>in</strong> 13 von 16 Bundesländern<br />
mangelt.<br />
Dies wirft gravierende Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit<br />
auf. Denn bei der Freiheitsentziehung handelt es sich um<br />
e<strong>in</strong>en der schwersten Grundrechtse<strong>in</strong>griffe. E<strong>in</strong> solcher darf<br />
nicht ohne demokratisch zustande gekommenes Gesetz erfolgen.<br />
Es muss nicht nur das „Ob“ der Haft, sondern auch das<br />
„Wie“ geregelt werden. Dies gebietet das Demokratiepr<strong>in</strong>zip,<br />
das besagt, dass alle „wesentlichen Grundrechtse<strong>in</strong>griffe“<br />
durch den Gesetzgeber zu beschließen s<strong>in</strong>d. Man spricht<br />
auch von e<strong>in</strong>em Parlamentsvorbehalt. Das <strong>Pro</strong>blem der fehlenden<br />
Gesetzesgrundlage gab es auch <strong>in</strong> den angrenzenden<br />
Rechtsgebieten des Strafvollzuges. Bis <strong>in</strong> die 1970er Jahre<br />
wurde die Geltung der Grundrechte im Strafvollzug noch<br />
bestritten, bis das Bundesverfassungsgericht 1972 klarstellte,<br />
dass auch Strafgefangene Grundrechtsträger s<strong>in</strong>d und dass<br />
daher über den bloßen Freiheitsentzug h<strong>in</strong>ausgehenden<br />
Freiheitsbeschränkungen im Vollzug gesetzlich geregelt werden<br />
müssen. 24<br />
In den zurückliegenden Jahren wurde heftig um den Jugendstrafvollzug<br />
gestritten. Auch hier waren Bund und Länder lange<br />
Zeit <strong>in</strong>aktiv gewesen und hatten ke<strong>in</strong>e speziellen Gesetze<br />
erlassen – bis im Jahr 2006 erneut das Bundesverfassungsgericht<br />
e<strong>in</strong>schritt. Es erklärte die analoge Anwendung des allgeme<strong>in</strong>en<br />
Strafvollzugsgesetzes für verfassungswidrig.<br />
Das BVerfG 25 stellte fest: „E<strong>in</strong>er analogen Anwendung der<br />
Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes auf Diszipl<strong>in</strong>armaßnahmen<br />
im Jugendstrafvollzug steht bereits das aus Art. 103<br />
Abs. 2 GG folgende Analogieverbot entgegen.“ In der weiteren<br />
Begründung se<strong>in</strong>es Urteils machte das Bundesverfassungsgericht<br />
klar, warum der Gesetzgeber sich mit den Besonderheiten<br />
des Jugendvollzugs ause<strong>in</strong>andersetzen muss. Man<br />
könne den Jugendstrafvollzug nicht nach den Regeln des<br />
Erwachsenenstrafvollzuges gestalten. Dies würde dem Erziehungsgedanken<br />
zuwiderlaufen. Das BVerfG forderte deswegen<br />
e<strong>in</strong>e eigenständige gesetzliche Grundlage. Denn der<br />
Vollzug bei Erwachsenen sei mit dem von Jugendlichen<br />
und Heranwachsenden nicht zu vergleichen. Es fehle an der<br />
„Gleichartigkeit der zu regelnden Sachverhalte“. Als Ergebnis<br />
wurde festgehalten: „Für den Jugendstrafvollzug bedarf es gesetzlicher<br />
Grundlagen, die auf die besonderen Anforderungen<br />
des Vollzuges von Strafen an Jugendlichen und ihnen gleichstehenden<br />
Heranwachsenden zugeschnitten s<strong>in</strong>d.“<br />
Dasselbe muss auch für den Vollzug der <strong>Abschiebungshaft</strong><br />
gelten. Sie ist mit dem Strafvollzug nicht vergleichbar. <strong>Abschiebungshaft</strong><br />
dient nicht der Maßregelung oder Sanktionierung,<br />
sondern ist als re<strong>in</strong>er Vollzugsakt anzusehen. Sie<br />
dient alle<strong>in</strong> der Sicherung bzw. Vorbereitung der Abschiebung.<br />
Die Inhaftierten s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Straftäter. Bestimmte Sicherheitsvorkehrungen<br />
im Strafvollzug s<strong>in</strong>d deswegen auf<br />
Abschiebungshäftl<strong>in</strong>ge von vornhere<strong>in</strong> nicht anzuwenden,<br />
da von ihnen derlei Gefahren gar nicht ausgehen. Die Bed<strong>in</strong>gungen<br />
der Haft müssen unter dem Gesichtspunkt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes<br />
sehr viel liberaler ausgestaltet<br />
werden als die im Strafvollzug. Ebenso ist der Gedanke der<br />
Resozialisierung, der dem Strafvollzug zugrunde liegt, nicht<br />
auf Abschiebungshäftl<strong>in</strong>ge übertragbar, da sie ja lediglich<br />
ausreisepflichtig s<strong>in</strong>d.<br />
Der grundlegende unterschiedliche Charakter von <strong>Abschiebungshaft</strong><br />
im Vergleich zur Strafhaft zeigt, dass man die gesetzliche<br />
Grundlage nicht e<strong>in</strong>fach übertragen kann. Dass die überwiegende<br />
Mehrheit der Bundesländer lediglich auf die Anwendung<br />
des Freiheitsentziehungsgesetzes und des Strafvollzugsgesetzes<br />
verweist, ist mit dem Grundgesetz nicht vere<strong>in</strong>bar.<br />
23. Das Strafvollzugsgesetz (StVollzG) regelte als Bundesgesetz seit 1977 <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> den<br />
Vollzug der Freiheitsstrafe <strong>in</strong> Justizvollzugsanstalten und der freiheitsentziehenden Maßregeln<br />
der Besserung und Sicherung (§ 1 StVollzG – Anwendungsbereich). Nachdem die Gesetzgebungskompetenz<br />
im Rahmen der Föderalismusreform vom Bund auf die Länder übergegangen<br />
ist, werden die jeweiligen Landesgesetze das Strafvollzugsgesetz des Bundes sukzessive ablösen.<br />
24. BVerfGE 33, 1.<br />
25. BVerfG, 2 BvR 1673/04 vom 31.5.2006, Absatz-Nr. (1–77), http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20060531_2bvr167304.html.