Heribert Kohl - Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung
Heribert Kohl - Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung
Heribert Kohl - Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
KOALITIONSFREIHEIT, ARBEITNEHMERRECHTE UND SOZIALER DIALOG<br />
1. Aktueller Ausgangspunkt:<br />
Die Bewährungsprobe <strong>der</strong> Arbeitsbeziehungen im Europa <strong>der</strong> Krise<br />
Die seit Menschengedenken global einschneidendste<br />
Wirtschaftskrise ist zugleich auch die<br />
größte Herausfor<strong>der</strong>ung an die Qualität <strong>der</strong> Arbeitsbeziehungen<br />
und <strong>der</strong> sozialstaatlichen Substanz<br />
in Europa.<br />
Die Fragen, die sich an die Bürger und Arbeitnehmer<br />
Europas stellen, sind:<br />
• Inwieweit kann es gelingen, durch koordinierte<br />
Anstrengungen aller Beteiligten – <strong>der</strong> Unternehmen,<br />
ihrer Belegschaften, <strong>der</strong> Arbeitsverwaltung,<br />
<strong>der</strong> Politik und nicht zuletzt <strong>der</strong> Bürger<br />
als Konsumenten und künftig wohl beson<strong>der</strong>s<br />
gefor<strong>der</strong>te Steuerzahler – möglichste viele Arbeitsplätze<br />
in dieser äußerst kritischen Phase zu<br />
erhalten?<br />
• Ist es gleichzeitig möglich, durch eine weiterhin<br />
aktive Verteilungs- und Sozialpolitik die sich<br />
allenthalben zeigende zunehmende Spaltung<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft in arm und reich sowie die<br />
Pers pektivlosigkeit gerade vieler Jugendlicher<br />
durch Ausgrenzung aus dem Arbeitsleben als<br />
europaweit erkennbares Phänomen zu stoppen?<br />
• Sind die unterschiedlichen Instrumente des<br />
sozialen Dialogs – im Betrieb, in <strong>der</strong> Branchenpolitik<br />
sowie in <strong>der</strong> Gesamtgesellschaft – weiterhin<br />
eine Gewähr dafür, dass ein funktionieren<strong>der</strong><br />
Wirtschaftskreislauf aufrecht erhalten<br />
bleibt, dessen Voraussetzung eine hohe Kaufkraft<br />
im Lande ist, was wie<strong>der</strong>um kooperationsbereite<br />
Sozialpartner und starke, ausreichend<br />
gut aufgestellte Gewerkschaften verlangt?<br />
Genau dies ist <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeit kardinale Punkt, nicht<br />
nur, aber vor allem auch in Osteuropa. Denn dort<br />
– in den 10 ex-sozialistischen neuen Mitgliedsstaaten<br />
sowie den weiteren Kandidatenlän<strong>der</strong>n<br />
des Balkan – waren und sind die Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
an die Wandlungsfähigkeit <strong>der</strong> Gewerkschaften,<br />
ihre Bereitschaft, sich auf die neuen Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />
von Markwirtschaft und Globalisierung<br />
bewusst und aktiv gestaltend einzulassen, am<br />
größten. Sie mussten angesichts eines massiven<br />
Systemwandels zunächst ihre neue Rolle finden<br />
und aktiv auszuüben lernen als mitentscheidende<br />
Akteure <strong>der</strong> Arbeitsplatzsicherung im Zuge <strong>der</strong><br />
Privatisierung, <strong>der</strong> Verteilungskämpfe zur Sicherung<br />
gerechter Einkommen und nicht zuletzt <strong>der</strong><br />
Beteiligung an <strong>der</strong> Gestaltung einer neuen Wirtschafts-<br />
und Sozialordnung einschließlich eines<br />
angepassten Arbeitsrechts.<br />
Und gerade hier liegt das beson<strong>der</strong>e Dilemma <strong>der</strong><br />
Gewerkschaften: Da sie dies alles naturgemäß –<br />
auf Grund ihrer früher total an<strong>der</strong>en Aufgabenstellungen<br />
– in einer vergleichsweise kurzen Übergangsfrist<br />
<strong>der</strong> nun nahezu abgeschlossenen Transformationsphase<br />
nur höchst lückenhaft erfüllen<br />
konnten, ist ihr organisatorischer Nie<strong>der</strong>gang<br />
durch Verlust an Mitglie<strong>der</strong>n und Personal auch<br />
beson<strong>der</strong>s einschneidend ausgefallen.<br />
Überdeutlich zeigt sich diese Existenzfrage <strong>der</strong><br />
Gewerkschaften als einem <strong>der</strong> wesentlichen Pfeiler<br />
des Sozialdialogs heute europaweit. In Westeuropa<br />
bereits seit dem als »apogée du syndicalisme«<br />
genannten Kulminationspunkt <strong>der</strong> Gewerkschafts<br />
bewegung ab Mitte <strong>der</strong> 70er Jahre des letzten<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts durch permanenten Mitglie<strong>der</strong>rückgang<br />
nahezu ausnahmslos in Gesamteuropa<br />
(Pigenet et al. 2005) – selbst in ihren klassischen<br />
Hochburgen Skandinaviens.<br />
Dramatisch wirksam indessen wurde dieser Einbruch<br />
im Zuge <strong>der</strong> „Wende“ (Transformation) in<br />
Osteuropa (s. Übersicht 1). Natürlich sind diese<br />
massiven Verluste wegen ihrer völlig an<strong>der</strong>en Ursachen<br />
beim Übergang von einer monopolistischen<br />
staatstragenden Arbeitnehmervertretung<br />
mit faktischer Zwangsmitgliedschaft hin zu einem<br />
Interessenverband auf freiwilliger Basis mit komplett<br />
neuen Aufgabenstellungen in <strong>der</strong> Marktwirtschaft<br />
in keiner Weise mit dem Verlust an traditionellem<br />
Syndikalismus in Westeuropa vergleichbar.<br />
Ihre Auswirkungen allerdings durchaus – zumal<br />
sich diese mit zunehmen<strong>der</strong> Schärfe im gesamten<br />
Spektrum Osteuropas zeigen.<br />
11