Der Vertrag von Lissabon und das Grundgesetz - Dr. Peter Gauweiler
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Murswiek, Gutachten <strong>Vertrag</strong> <strong>von</strong> <strong>Lissabon</strong> 6<br />
formuliert. Das hier behauptete Recht ist jedoch, wie im folgenden gezeigt wird, durch<br />
systematische Interpretation aus Art. 20 Abs. 4 GG abzuleiten 7 .<br />
Zu den Rechten, die mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden können, gehört<br />
gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG auch <strong>das</strong> Widerstandsrecht. Art.<br />
20 Abs. 4 GG gibt allen Deutschen – sofern andere Abhilfe nicht möglich ist – <strong>das</strong> Recht<br />
zum Widerstand gegen jeden, der es unternimmt, die verfassungsrechtlichen F<strong>und</strong>amentalprinzipien<br />
zu beseitigen, die in Art. 20 Abs. 1-3 <strong>und</strong> in Art. 1 GG normiert <strong>und</strong> durch Art.<br />
79 Abs. 3 GG jeder Verfassungsänderung entzogen sind 8 .<br />
Die vom Beschwerdeführer gerügten Verfassungsverstöße betreffen unabänderliche<br />
Gr<strong>und</strong>sätze gem. Art. 79 Abs. 3 GG: Das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1, 2 GG) gehört<br />
zum unabänderlichen Verfassungskern. Dasselbe gilt, wie in der Untersuchung der Begründetheit<br />
im einzelnen dargelegt wird (C.I.2. a), für die Staatlichkeit der B<strong>und</strong>esrepublik<br />
Deutschland 9 <strong>und</strong> den Status des Gr<strong>und</strong>gesetzes als Verfassung eines souveränen Staates.<br />
<strong>Der</strong> Beschwerdeführer rügt nicht Verletzungen einzelner konkreter Ausgestaltungen der<br />
genannten Prinzipien, die der Verfügung des verfassungsändernden Gesetzgebers unterliegen,<br />
sondern er macht ausschließlich geltend, daß der (verfassungsändernde) Gesetzgeber<br />
gegen diese f<strong>und</strong>amentalen Verfassungsprinzipien in einer mit Art. 79 Abs. 3 GG nicht zu<br />
vereinbarenden Weise verstößt <strong>und</strong> damit die absoluten Grenzen der Verfassungsänderung<br />
überschreitet. Somit beziehen sich alle Rügen des Beschwerdeführers auf solche Verfassungsverstöße,<br />
die unter den näheren Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 4 GG <strong>das</strong> Widerstandsrecht<br />
auslösen.<br />
(1) „Beseitigung“ der verfassungsmäßigen Ordnung?<br />
Voraussetzung des Widerstandsrechts ist nach Art. 20 Abs. 4 GG, daß jemand es unternimmt,<br />
die f<strong>und</strong>amentalen Verfassungsprinzipien „zu beseitigen“. Einigkeit besteht darüber,<br />
daß <strong>das</strong> Widerstandsrecht nicht nur dann gegeben ist, wenn sich der Angriff gegen<br />
sämtliche Verfassungsf<strong>und</strong>amentalprinzipien richtet; es reicht aus, wenn eines der unabänderlichen<br />
Verfassungsprinzipien bedroht ist 10 . Aus der Formulierung „beseitigen“ hat Herzog<br />
aber geschlossen, daß ein Widerstandsrecht nur gegeben sei, wenn die Beseitigung<br />
eines der F<strong>und</strong>amentalprinzipien im ganzen oder seine Verkehrung ins Gegenteil beabsichtigt<br />
sei. Dagegen könne <strong>das</strong> Widerstandsrecht „noch nicht bei einzelnen Rechtsverstößen,<br />
auch nicht bei einzelnen Verfassungsverstößen <strong>und</strong> mit Art. 79 Abs. 3 unvereinbaren Ver-<br />
7 Die folgende Interpretation des Art. 20 Abs. 4 GG hatte ich bereits 1992 im Rahmen eines Gutachtens<br />
zur Vereinbarkeit des <strong>Vertrag</strong>es <strong>von</strong> Maastricht mit dem Gr<strong>und</strong>gesetz entwickelt. Dieser Teil des Gutachtens<br />
ist veröffentlicht in: Ingo Winkelmann (Hg.), Das Maastricht-Urteil des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />
vom 12. Oktober 1993. Dokumentation des Verfahrens mit Einführung, 1994, S.80-87.<br />
8 Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 IX (Stand: 1980), Rn. 12, 17; Konrad Hesse, Gr<strong>und</strong>züge<br />
des Verfassungsrechts der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rdnr. 758.<br />
9 Dafür, daß der Bestand der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland durch Art. 20 Abs. 4 GG geschützt wird, z.B.<br />
Herzog, in Maunz/Dürig, GG, Art. 20 IX Rdnr. 22.<br />
10 Vgl. z.B. Josef Isensee, Das legalisierte Widerstandsrecht, 1969, S. 21; Herzog, in Maunz/Dürig, GG,<br />
Art. 20 IX Rn. 23.