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Der Vertrag von Lissabon und das Grundgesetz - Dr. Peter Gauweiler

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Murswiek, Gutachten <strong>Vertrag</strong> <strong>von</strong> <strong>Lissabon</strong> 49<br />

man sie als „Staatenverb<strong>und</strong>“ 89 , als „B<strong>und</strong>esstaat“ 90 oder etwa als „Teilb<strong>und</strong>esstaat“ 91<br />

bezeichnet 92 . Man mag sie als „Staatenverb<strong>und</strong>“ bezeichnen, solange sie sich noch nicht<br />

zum souveränen Staat proklamiert hat <strong>und</strong> sie auf der völkerrechtlichen Ebene noch nicht<br />

als Staat agiert, sondern als staatsähnliche Organisation. Dies schließt aber keineswegs aus,<br />

daß die oben aufgezeigten Grenzen der Übertragbarkeit <strong>von</strong> Hoheitsrechten überschritten<br />

sind. Verfassungsrechtlich geht es nicht um „Staat“ oder „Nicht-Staat“, sondern um die<br />

europäische Staatswerdung <strong>und</strong> die ihr korrespondierende Entstaatlichung der Mitgliedstaaten,<br />

um die Anreicherung <strong>von</strong> Elementen der Staatlichkeit bei der Europäischen Union<br />

<strong>und</strong> den Verlust <strong>von</strong> Elementen der Staatlichkeit auf Seiten der Mitgliedstaaten, um die<br />

Konkretisierung der Grenze, die <strong>das</strong> Gr<strong>und</strong>gesetz diesem Staatswerdungs- <strong>und</strong> Entstaatlichungsprozeß<br />

setzt, <strong>und</strong> um die Beantwortung der Frage, ob diese Grenze mit dem <strong>Vertrag</strong><br />

<strong>von</strong> <strong>Lissabon</strong> überschritten ist.<br />

e) <strong>Der</strong> <strong>Vertrag</strong> <strong>von</strong> <strong>Lissabon</strong> <strong>und</strong> der Gr<strong>und</strong>satz der souveränen Staatlichkeit<br />

aa) Rechtsetzungshoheit <strong>und</strong> Rechtsprechungshoheit<br />

Schon vor dem <strong>Vertrag</strong> <strong>von</strong> <strong>Lissabon</strong> hatte die Europäische Union schon so weitreichende<br />

Rechtsetzungskompetenzen, daß man sie in ihrer Gesamtheit kaum noch als einzelne Hoheitsrechte<br />

im Sinne <strong>von</strong> Art. 24 Abs. 1, 23 Abs. 1 GG ansehen konnte. Durch den <strong>Vertrag</strong><br />

<strong>von</strong> <strong>Lissabon</strong> kommen weitere wichtige Rechtsetzungskompetenzen hinzu. Im Ergebnis ist<br />

dadurch die Europäische Union weit über eine sektorale zwischenstaatliche Einrichtung<br />

hinausgewachsen. Wie sogleich im einzelnen gezeigt wird, hat die Europäische Union sowohl<br />

quantitativ als auch qualitativ so umfangreiche Kompetenzen, wie sie für die B<strong>und</strong>esebene<br />

eines B<strong>und</strong>esstaates typisch sind.<br />

(1) Flächendeckende Kompetenzen<br />

(1.1) Keine sektorale Beschränkung, sondern thematische Flächendeckung<br />

Die Europäische Union ist aus einer zunächst auf wirtschaftsrelevante Sektoren begrenzten<br />

Gemeinschaft hervorgegangen, die im Laufe der Jahrzehnte immer mehr Rechtsetzungs-<br />

89 So die Begriffsprägung des BVerfG im Maastricht-Urteil, BVerfGE 89, 155 (190).<br />

90 Dies erwägt z.B. Siegfried Broß, Verfassungssystematische <strong>und</strong> verfassungspolitische Überlegungen<br />

zum Erfordernis eines nationalen Referendums über die Verfassung der Europäischen Union, in: FS<br />

Hablitzel, 2005, S. 55 (60).<br />

91 Ebenfalls eine Erwägung <strong>von</strong> Broß (Fn. 90), S. 61, 62.<br />

92 Dazu Haack (Fn. 74), S. 13: „Wenn <strong>das</strong> Schrifttum nahezu einhellig die fehlende Staatsqualität der EU<br />

beschwört <strong>und</strong> beteuert, so handelt es sich mehr <strong>und</strong> mehr um eine begriffliche Absicherung, die dem<br />

Sachzusammenhang nur noch begrenzt gerecht werden kann. <strong>Der</strong> Begriff wird dann bewußt nicht verwendet,<br />

obwohl <strong>und</strong> weil er der Sache nach irgendwie paßt.“ Und Di Fabio, <strong>Der</strong> Staat 32 (1993), S. 191<br />

(197), stellte bereits 1993 fest, es deute sich ein Entwicklungsprozeß an, „in dem die europäische Ebene<br />

die entscheidende staatliche Rechtsmacht an sich zieht, aus formalen oder institutionellen Gründen dieser<br />

Ebene die Staatsqualität jedoch abgesprochen wird“. Dem entspricht der Hinweis <strong>von</strong> Siegfried<br />

Broß, Überlegungen zur europäischen Staatswerdung, JZ 2008, S. 227 (229), auf die Diskrepanz zwischen<br />

dem, „was die <strong>Vertrag</strong>sstaaten zwar nach ihrem erklärten Willen nicht anstreben, durch ihr Tun<br />

aber gleichwohl materiell erreichen“.

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