Der Vertrag von Lissabon und das Grundgesetz - Dr. Peter Gauweiler
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Murswiek, Gutachten <strong>Vertrag</strong> <strong>von</strong> <strong>Lissabon</strong> 86<br />
- <strong>Der</strong> Rat ist immer noch <strong>das</strong> Hauptgesetzgebungsorgan der Europäischen Union. Freilich<br />
ist <strong>das</strong> Europäische Parlament ihm jetzt überall dort, wo <strong>das</strong> ordentliche Gesetzgebungsverfahren<br />
zur Anwendung kommt (<strong>und</strong> <strong>das</strong> ist nach dem <strong>Vertrag</strong> <strong>von</strong> <strong>Lissabon</strong><br />
nunmehr der Regelfall), als gleichberechtigtes Gesetzgebungsorgan an die Seite gerückt.<br />
Unter dem Aspekt des Demokratieprinzips bleibt jedoch <strong>das</strong> Problem bestehen,<br />
daß mit dem Rat ein aus Regierungsvertretern zusammengesetztes Organ als Gesetzgebungsorgan<br />
fungiert, <strong>das</strong> unter Berücksichtigung derjenigen Materien, die nicht im ordentlichen<br />
Gesetzgebungsverfahren entschieden werden, mehr Macht <strong>und</strong> Kompetenzen<br />
auf dem Gebiet der Rechtsetzung hat als <strong>das</strong> Parlament.<br />
- <strong>Der</strong> Rat ist auf europäischer Ebene nicht demokratisch legitimiert. Er bezieht seine<br />
Legitimation vielmehr indirekt <strong>von</strong> den Völkern der Mitgliedstaaten. Dies ist zwar<br />
durchaus eine mögliche Legitimationsquelle. Doch funktioniert dieser Legitimationsmodus<br />
nur dort, wo <strong>das</strong> Einstimmigkeitsprinzip gilt. Wird nach dem Mehrheitsprinzip<br />
entschieden, so wird die getroffene Entscheidung nicht vom Willen derjenigen Völker<br />
mitgetragen, deren Vertreter gegen die Entscheidung gestimmt haben (dazu näher unten<br />
b bb [1], [2] • S. 89 ff.).<br />
- Diese indirekte Legitimation ist im übrigen noch indirekter als die indirekte Legitimation<br />
der Regierung in Deutschland. Die Legitimationskette ist länger, <strong>und</strong> damit sinkt<br />
<strong>das</strong> Legitimationsniveau.<br />
- Vor allem aber sinkt mit der Entfernung <strong>von</strong> der Legitimationsquelle, dem Volk, auch<br />
die Transparenz der Willensbildung. Hier kommen noch besondere, die Intransparenz<br />
erhöhende Spezifika der Brüsseler Entscheidungsprozeduren hinzu. Zwar schreibt der<br />
<strong>Vertrag</strong> <strong>von</strong> <strong>Lissabon</strong> jetzt die Öffentlichkeit der Ratsverhandlungen bei Beratungen<br />
über Gesetzgebungsakte vor, so daß immerhin ein wenig Licht in ein bis jetzt fast totales<br />
Dunkel getragen wird. Aber so viel Transparenz, daß eine öffentliche Debatte möglich<br />
wird, die <strong>das</strong> Niveau erreicht, <strong>das</strong> in parlamentarischen Demokratien üblich ist,<br />
wird dadurch bei weitem noch nicht geschaffen. Das liegt vor allem an zwei Umständen:<br />
- Ein großer Teil der Entscheidungen wird materiell bereits im entscheidungsvorbereitenden<br />
Ausschuß der Ständigen Vertreter (jetzt Art. 240 AEUV) <strong>und</strong> den ihm nachgeordneten<br />
Ausschüssen getroffen 156 .<br />
- Die Komplexität der Verhandlungsstruktur macht es allen Beteiligten leicht, sich nationaler<br />
Steuerung <strong>und</strong> Kontrolle (auch der Steuerung <strong>und</strong> Kontrolle durch die mitgliedstaatlichen<br />
Parlamente) durch unwiderlegbare Berufung auf Kompromißzwänge<br />
zu entziehen 157 . Ständige Praxis sind die „package deals“: „Um Mehrheiten bei der<br />
Beschlußfassung zu bilden, werden zwischen den Vertretern der Mitgliedstaaten Allianzen<br />
geschlossen <strong>und</strong> dabei oft sachlich nicht zusammengehörige Vorhaben ge-<br />
156 Lübbe-Wolff (Fn. 151), S. 257.<br />
157 Lübbe-Wolff (Fn. 151), S. 257.