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Der Vertrag von Lissabon und das Grundgesetz - Dr. Peter Gauweiler

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Murswiek, Gutachten <strong>Vertrag</strong> <strong>von</strong> <strong>Lissabon</strong> 46<br />

verfassungsrechtlichen Grenzen der Integrationsermächtigung nicht überschritten werden.<br />

Auch im Maastricht-Urteil klingt dieser Gedanke an 83 . In der Tat ist der Prinzip der begrenzten<br />

Einzelermächtigung ein wichtiges Abgrenzungskriterium: Würde es aufgegeben<br />

zugunsten einer unbestimmten Generalermächtigung, dann wäre dies mit dem Gr<strong>und</strong>gesetz<br />

unvereinbar 84 .<br />

Aber kann man umgekehrt wirklich sagen, die verfassungsrechtlichen Integrationsgrenzen<br />

seien nicht überschritten, solange die Kompetenzzuweisung an die Europäische Union<br />

nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung erfolgt? Wer diese Frage bejaht, verkennt,<br />

daß <strong>das</strong> Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ein rein formales Prinzip der<br />

Kompetenzabgrenzung ist, <strong>das</strong> über den Umfang der Kompetenzübertragung nichts aussagt.<br />

Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verteilt die Kompetenzen in einem<br />

Mehrebenensystem zwischen zwei Ebenen nach einem einfachen formalen Regel-<br />

Ausnahme-Schema: Die Kompetenzen liegen bei der einen Ebene (hier: bei den Mitgliedstaaten),<br />

soweit die nicht der anderen Ebene (hier: der Europäischen Union) ausdrücklich<br />

für bestimmte Gebiete zugewiesen sind. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in<br />

der Europäischen Union hat also keine andere Funktion als sie in Deutschland Art. 70 GG<br />

für die Abgrenzung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Ländern hat. Ob<br />

<strong>das</strong> Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zusätzlich eine hinreichend präzise Bestimmung<br />

der der Europäischen Union übertragenen Rechtsetzungskompetenzen verlangt,<br />

die es den nationalen Gesetzgebern ermöglicht, die Verantwortung für die Übertragung der<br />

betreffenden Hoheitsrechte zu übernehmen 85 , ist in diesen Zusammenhang irrelevant.<br />

Denn auch wenn die übertragenen Einzelkompetenzen sehr präzise normiert <strong>und</strong> normativ<br />

begrenzt sind, bleibt es dabei, daß es sich um eine formale Verteilungsregel handelt. Diese<br />

Verteilungsregel stellt aber keineswegs sicher, daß – wie Art. 24 GG dies verlangt <strong>und</strong> wie<br />

der neue Art. 23 GG dies nicht ändern konnte – nur einzelne Hoheitsrechte, d.h. eine begrenzte<br />

Zahl <strong>von</strong> Hoheitsrechten <strong>und</strong> auf keinen Fall die überwiegende Zahl der Hoheitsrechte,<br />

auf die Europäische Union übertragen werden. Vielmehr ist es möglich, daß im<br />

Wege der begrenzten Einzelermächtigung praktisch alle Gesetzgebungskompetenzen auf<br />

die Europäische Union übertragen werden, daß also für die Mitgliedstaaten – in Deutschland<br />

für B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Länder – überhaupt nichts mehr übrig bleibt. Es ist völlig klar, daß dieses<br />

Ergebnis mit dem Gr<strong>und</strong>gesetz unvereinbar wäre, sowohl unter dem Aspekt der souveränen<br />

Staatlichkeit als auch unter dem Aspekt des Demokratieprinzips.<br />

Aus dem Umstand, daß <strong>das</strong> Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nach wie vor <strong>das</strong><br />

für die Europäische Union maßgebliche Prinzip der Kompetenzverteilung ist, folgt also<br />

nichts für die Beantwortung der Frage, ob die Grenzen der nach dem Gr<strong>und</strong>gesetz zulässigen<br />

Übertragung <strong>von</strong> Hoheitsrechten überschritten sind oder nicht.<br />

Erst recht nicht läßt sich die hiermit im Zusammenhang stehende, aber nicht hiermit identische<br />

Frage, ob die Europäische Union bereits ein B<strong>und</strong>esstaat ist, unter Hinweis auf <strong>das</strong><br />

83 BVerfGE 89, 155 (189, 192).<br />

84 Vgl. BVerfGE 89, 155 (209 f.).<br />

85 Vgl. BVerfGE 89, 155 (191 f.).

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