Der Vertrag von Lissabon und das Grundgesetz - Dr. Peter Gauweiler
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Murswiek, Gutachten <strong>Vertrag</strong> <strong>von</strong> <strong>Lissabon</strong> 40<br />
Union wäre daher nur aufgr<strong>und</strong> einer verfassunggebenden Entscheidung des Volkes zulässig,<br />
nicht jedoch durch ein – verfassungsänderndes – Gesetz.<br />
In bezug auf die Europäische Union folgt daraus, daß die eine europäische Verfassunggebung,<br />
durch welche die verfassunggebende Gewalt auf die Europäische Union übertragen<br />
würde, aus Sicht des Gr<strong>und</strong>gesetzes nur <strong>von</strong> den Völkern der Mitgliedstaaten ausgehen<br />
dürfte.<br />
Kann man umgekehrt sagen, solange die verfassunggebende Gewalt bei den Völkern der<br />
Mitgliedstaaten liegt, seien die unabänderlichen Grenzen der Integration noch nicht überschritten?<br />
Diese Frage muß schon deshalb verneint werden, weil die verfassunggebenden<br />
Gewalt einerseits die Legitimationsquelle der demokratischen Verfassung bezeichnet, andererseits<br />
für den durch diese Gewalt legitimierten Staat nur eine Reservefunktion darstellt,<br />
die sich nur bei gr<strong>und</strong>legenden Umgestaltungen der politischen Ordnung aktualisiert.<br />
Da auf der Basis der bei den Völkern der Mitgliedstaaten liegenden verfassunggebenden<br />
Gewalt <strong>von</strong> den Mitgliedstaaten Hoheitsrechte an die Europäische Union übertragen worden<br />
sind <strong>und</strong> weiterhin übertragen werden, kommt es im Prozeß der europäischen Integration<br />
zu weitreichenden Verschiebungen im Machtgefüge, ohne daß die Völker als Träger<br />
der verfassunggebenden Gewalt daran beteiligt sind. Würde – um zwei eindeutige Beispiele<br />
zu nennen – die Kompetenz-Kompetenz auf die Europäische Union übertragen, oder<br />
würde die Befugnis zur völkerrechtlichen Vertretung gegenüber <strong>Dr</strong>ittstaaten vollständig,<br />
d.h. unter Ausschluß der Mitgliedstaaten, auf die Europäische Union übertragen, dann wäre<br />
auf jeden Fall die Grenze der verfassungsrechtlichen Integrationsermächtigung überschritten,<br />
auch wenn die verfassunggebende Gewalt bei den Völkern der Mitgliedstaaten<br />
verbliebe. Zwar hätte in einer solchen Situation die Europäische Union immer noch keine<br />
eigene verfassunggebende Gewalt; sie könnte sich nicht aus eigenem Recht – legitimiert<br />
durch ein europäisches Volk – eine eigene Verfassung geben, <strong>und</strong> <strong>das</strong> deutsche Staatsvolk<br />
hätte immer noch den Status des pouvoir constituant für Deutschland, dies allerdings nur<br />
noch in einem sehr formalen Sinne. Zumindest dann, wenn die Kompetenz-Kompetenz auf<br />
die Europäische Union übergeht, haben die Völker der Mitgliedstaaten materiell betrachtet<br />
die verfassunggebende Gewalt verloren. Denn angesichts des Vorrangs des Unionsrechts<br />
gegenüber nationalem Verfassungsrecht hätte die Union materiell betrachtet die verfassunggebende<br />
Gewalt für ganz Europa. Und im Falle des Übergangs der völkerrechtlichen<br />
Vertretungsbefugnis an die Union wären die Mitgliedstaaten sogar im völkerrechtlichen<br />
Sinne keine Staaten mehr, so daß aus diesem Gr<strong>und</strong>e die Integrationsgrenze auch dann<br />
überschritten wäre, wenn man annähme, daß den Völkern der Mitgliedstaaten die verfassunggebende<br />
Gewalt verbliebe.<br />
Aus dem Umstand, daß die verfassunggebende Gewalt noch nicht der Union zugewiesen<br />
worden ist, sondern bei den Völkern der Mitgliedstaaten verbleibt, kann also nicht geschlossen<br />
werden, daß die Grenzen der verfassungsrechtlichen Integrationsermächtigung<br />
noch nicht überschritten sind.