Der Vertrag von Lissabon und das Grundgesetz - Dr. Peter Gauweiler
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Murswiek, Gutachten <strong>Vertrag</strong> <strong>von</strong> <strong>Lissabon</strong> 57<br />
Entscheidung des EuGH herbeizuführen. Andererseits aber wird hier der „Motor der Integration“<br />
zum Wächter des Subsidiaritätsprinzips gemacht.<br />
Das wäre noch nicht schlimm, wenn den nationalen Verfassungsgerichten die Möglichkeit<br />
verbliebe, mit dem Subsidiaritätsprinzip unvereinbare europäische Rechtsakte als „ausbrechende<br />
Rechtsakte“ für innerstaatlich unwirksam zu erklären. Diese Möglichkeit aber ist<br />
mit Art. 8 des Subsidiaritätsprotokolls beseitigt. Das Protokoll stellt klar, daß nach den<br />
Verträgen der EuGH verbindlich über die Vereinbarkeit <strong>von</strong> Rechtsakten mit dem Subsidiaritätsprinzip<br />
entscheidet. Dies hätte man auch ohne die Klarstellung bereits aus der Systematik<br />
der Verträge entnehmen können – <strong>das</strong> Subsidiaritätsprinzip ist ja kein Kompetenzverteilungsprinzip,<br />
sondern eine Kompetenzausübungsregel <strong>und</strong> setzt die Kompetenz<br />
der Union als bestehend voraus. Eine unionsrechtliche Regel über die Anwendung <strong>von</strong><br />
Unionskompetenzen aber ist eine Frage des Unionsrechts. Darüber zu entscheiden, fällt in<br />
die Kompetenz des Gerichtshofs der Union, nicht in die Kompetenz der nationalen Verfassungsgerichte.<br />
Indem nun die Mitgliedstaaten im <strong>Vertrag</strong> <strong>von</strong> <strong>Lissabon</strong> die Zuständigkeit<br />
des Gerichtshofs der Europäischen Union für Subsidiaritätsklagen ausdrücklich festlegen,<br />
machen sie implizit eine Argumentation unmöglich, die – wie oben skizziert – den nationalen<br />
Verfassungsgerichten für eine Subsidiaritätskontrolle bislang offen gestanden hätte.<br />
Für die Beurteilung der Vereinbarkeit des <strong>Vertrag</strong> <strong>von</strong> <strong>Lissabon</strong> mit Art. 79 Abs. 3 GG<br />
ergibt sich daraus aber umgekehrt: Weil <strong>das</strong> B<strong>und</strong>esverfassungsgericht über die Vereinbarkeit<br />
europäischer Rechtsakte mit dem Subsidiaritätsprinzip nicht <strong>das</strong> letzte Wort hat, sondern<br />
die Entscheidung des EuGH verbindlich ist, muß <strong>das</strong> europäische Subsidiaritätsprinzip<br />
des Art. 5 EUV bei der Entscheidung, ob die unabänderlichen Grenzen der Übertragung<br />
<strong>von</strong> Hoheitsrechten überschritten worden sind, außer Betracht bleiben. Dieses Prinzip<br />
grenzt die der Europäischen Union übertragenen Gesetzgebungskompetenzen nicht wirksam<br />
ein, zumal die Mitgliedstaaten mit dem <strong>Vertrag</strong> <strong>von</strong> <strong>Lissabon</strong> die Konkretisierung<br />
dieses Prinzips definitiv aus der Hand gegeben haben.<br />
Im Ergebnis kann man sagen: Die Aufnahme des Subsidiaritätsprinzips in <strong>das</strong> primäre<br />
Unionsrecht ist lediglich eine salvatorische Klausel, <strong>und</strong> zwar eine Klausel, die nicht zu<br />
halten vermag, was sie verspricht. Die deutschen Gesetzgebungsorgane können den Anforderungen<br />
<strong>von</strong> Art. 23 Abs. 1 GG <strong>und</strong> den Anforderungen <strong>von</strong> Art. 79 Abs. 3 GG nur entsprechen,<br />
wenn sie bei der Übertragung <strong>von</strong> Hoheitsrechten sicherstellen, daß der Subsidiaritätsgr<strong>und</strong>satz<br />
gewahrt wird. Dies ist aber durch eine salvatorische Klausel, deren Anwendung<br />
völlig ungewiß ist <strong>und</strong> <strong>von</strong> den nationalen Organen, insbesondere <strong>von</strong> B<strong>und</strong>esverfassungsgericht,<br />
nicht mehr kontrolliert werden kann, nicht möglich. Vielmehr dürften<br />
Einzelermächtigungen nur in einem solchen Umfang <strong>und</strong> mit so präziser Begrenzung erteilt<br />
werden – gegebenenfalls ergänzt durch Negativkataloge für Materien, für welche die<br />
Europäische Union keine Zuständigkeit hat –, daß auf diese Weise die Subsidiarität <strong>und</strong><br />
der verfassungsrechtlich gebotene Verbleib des Schwerpunkts der Rechtsetzungskompetenz<br />
auf nationaler Ebene gewahrt blieben. Eine Alternative könnte allenfalls die Normierung<br />
der Zuständigkeit der nationalen Verfassungsgerichte oder eines neutralen Rechtspre-