Der Vertrag von Lissabon und das Grundgesetz - Dr. Peter Gauweiler
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Murswiek, Gutachten <strong>Vertrag</strong> <strong>von</strong> <strong>Lissabon</strong> 7<br />
fassungsänderungen“ mobilisiert werden, „solange noch die Chance besteht, daß sie durch<br />
<strong>das</strong> B<strong>und</strong>esverfassungsgericht korrigiert <strong>und</strong> diese Korrekturen durch die zuständigen<br />
Staatsorgane akzeptiert werden“ 11 . Dazu paßt es, daß derselbe Autor da<strong>von</strong> ausgeht, daß<br />
<strong>das</strong> Widerstandsrecht immer nur in Situationen aktuell wird, in denen ein Bürgerkrieg entweder<br />
bereits ausgebrochen sei oder doch der Verfassungsbruch nur durch einen Bürgerkrieg<br />
oder durch bürgerkriegsähnliche Aktionen bekämpft werden könne, die die verfassungstreue<br />
Seite gerade unter Berufung auf Art. 20 Abs. 4 GG in die Wege leite 12 .<br />
Diese <strong>Dr</strong>amatik, die auch der unbefangene Betrachter mit dem Begriff des „Widerstandes“<br />
assoziiert, die <strong>Dr</strong>amatik der Gewaltanwendung, der gewaltsamen Verteidigung der Verfassung,<br />
die anders nicht mehr zu retten ist, paßt nun ganz <strong>und</strong> gar nicht auf die hier zu beurteilende<br />
Situation, die mit der Unterzeichnung des <strong>Vertrag</strong>es <strong>von</strong> <strong>Lissabon</strong> <strong>und</strong> seiner parlamentarischen<br />
Billigung geschaffen wurde. Man griffe jedoch zu kurz, würde man schon<br />
aus diesem Gr<strong>und</strong>e die Anwendung <strong>von</strong> Art. 20 Abs. 4 GG ablehnen. Vielmehr muß in<br />
einer genauen Tatbestands- <strong>und</strong> Funktionsanalyse zunächst die Bedeutung dieses Gr<strong>und</strong>rechts<br />
ermittelt werden.<br />
Widerstand im Sinne <strong>von</strong> Gewaltanwendung gegen sich über den unantastbaren Verfassungskern<br />
hinwegsetzende Staatsorgane ist nämlich nach Art. 20 Abs. 4 GG nur die ultima<br />
ratio der Verteidigung des Staats <strong>und</strong> seiner Verfassung. Dieses Recht ist nur gegeben,<br />
wenn „andere Abhilfe nicht möglich ist“. Und andere Abhilfe ist möglich, solange <strong>das</strong><br />
B<strong>und</strong>esverfassungsgericht funktionsfähig ist, die streitige Verfassungsfrage entscheiden<br />
kann <strong>und</strong> die betreffenden Staatsorgane nicht zu erkennen gegeben haben, daß sie der Entscheidung<br />
des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts nicht Folge leisten würden. Die Möglichkeit<br />
einer Entscheidung durch <strong>das</strong> B<strong>und</strong>esverfassungsgericht ist also eine Frage des Tatbestandsmerkmals<br />
„andere Abhilfe“ <strong>und</strong> sollte nicht mit dem Tatbestandsmerkmal „Beseitigung<br />
dieser Ordnung“ vermengt werden. Daß beliebige Rechtsverletzungen, auch Verfassungsverstöße,<br />
nicht zum Widerstand berechtigen, ergibt sich aus dem Zusammenhang, in<br />
dem Art. 20 Abs. 4 GG steht, aus dem Zusammenhang mit den Prinzipien, die den unabänderlichen<br />
Verfassungskern ausmachen. Dies bedürfte keiner besonderen Betonung, wenn<br />
über den Gegenstand dessen, was mit dem Widerstandsrecht verteidigt werden darf, Klarheit<br />
besteht. Wie aber steht es mit der These, daß selbst ein Verstoß gegen Gr<strong>und</strong>sätze des<br />
Art. 79 Abs. 3 GG nicht zum Widerstand berechtige? Herzog hat diese These <strong>von</strong> der Voraussetzung<br />
abhängig gemacht, daß noch eine Chance auf Entscheidung durch <strong>das</strong> B<strong>und</strong>esverfassungsgericht<br />
<strong>und</strong> auf Befolgung dieser Entscheidung besteht. Wenn dies aber, wie<br />
dargelegt, unter dem Tatbestandsmerkmal „andere Abhilfe“ zum Ausschluß des Widerstandsrechts<br />
führt, kann dieser Umstand nicht zugleich negatives Tatbestandsmerkmal des<br />
Begriffs „Beseitigung“ sein. <strong>Der</strong> Begriff der Beseitigung steht neben dem Begriff der anderen<br />
Abhilfe. Es handelt sich um zwei selbständige Tatbestandsmerkmale. Was unter<br />
„Beseitigung“ zu verstehen ist, kann daher nicht differieren, je nachdem, ob andere Abhilfe<br />
im konkreten Fall möglich ist oder nicht. Richtig ist sicher, daß ein Recht auf Widerstand<br />
wegen der damit verb<strong>und</strong>enen Bürgerkriegsimplikationen nur im alleräußersten Notfalle<br />
11 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 IX Rn. 23f.<br />
12 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 IX Rn. 7.