Der Vertrag von Lissabon und das Grundgesetz - Dr. Peter Gauweiler
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Murswiek, Gutachten <strong>Vertrag</strong> <strong>von</strong> <strong>Lissabon</strong> 39<br />
Jeder Versuch aber, die Abgrenzung anhand bestimmter Staatstheorien oder Staatsdefinitionen,<br />
insbesondere anhand einer bestimmten Auffassung vom B<strong>und</strong>esstaat, vorzunehmen,<br />
führt notwendigerweise in Subjektivismen. Denn es gibt ungefähr so viele Begriffe<br />
vom B<strong>und</strong>esstaat wie es Theoretiker des B<strong>und</strong>esstaates gibt. Die Kriterien der Staatstheorie<br />
sind aber nicht notwendigerweise diejenigen des Gr<strong>und</strong>gesetzes.<br />
Ein Streit darüber, ob die Europäische Union bereits ein B<strong>und</strong>esstaat im Sinne der Staatstheorie<br />
ist oder noch nicht, mag für die Staatstheorie <strong>von</strong> Interesse für Kategorisierung <strong>und</strong><br />
Systembildung sein; für die Beantwortung der Frage, ob die europäische Integration mit<br />
dem <strong>Vertrag</strong> <strong>von</strong> <strong>Lissabon</strong> die Grenzen der gr<strong>und</strong>gesetzlichen Integrationsermächtigung<br />
überschritten hat, führt er nicht wesentlich weiter. Denn welche Übertragung <strong>von</strong> Hoheitsrechten<br />
<strong>das</strong> Gr<strong>und</strong>gesetz noch zuläßt, kann nicht da<strong>von</strong> abhängen, ob Staatstheoretiker<br />
nach außerhalb des Gr<strong>und</strong>gesetzes liegenden Kriterien die B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland<br />
noch beziehungsweise die Europäische Union schon als Staat qualifizieren. Es gibt Gründe<br />
dafür, die Europäische Union bereits als B<strong>und</strong>esstaat anzusehen, obwohl sie es völkerrechtlich<br />
noch nicht ist, es gibt auch Gründe dagegen. Das hängt vom B<strong>und</strong>esstaatsbegriff<br />
ab, den man zugr<strong>und</strong>e legt.<br />
Das Gr<strong>und</strong>gesetz gibt uns in dieser Hinsicht aber keinen subsumtionsfähigen B<strong>und</strong>esstaatsbegriff<br />
vor. Deshalb scheint es mir nicht weiterführend, zur Lösung des Abgrenzungsproblems<br />
in Begriffsstreitigkeiten einzusteigen. Entscheidend ist die Frage: Nach<br />
welchen Kriterien können wir entscheiden, ob nach Übertragung <strong>von</strong> Hoheitsrechten noch<br />
hinreichende Hoheitsrechte bei der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland verbleiben? 74<br />
cc) Qualitative <strong>und</strong> quantitative Ansätze zur Konkretisierung des Gr<strong>und</strong>satzes der<br />
souveränen Staatlichkeit<br />
Haben also die Begriffe „Staat“ <strong>und</strong> „souveräne Staatlichkeit“ für sich genommen nur begrenzte<br />
Aussagekraft, so lassen sich dem Gr<strong>und</strong>gesetz doch einige Kriterien entnehmen,<br />
die es ermöglichen, die unabänderlichen Grenzen der verfassungsrechtlichen Integrationsermächtigung<br />
über die oben (zu Beginn <strong>von</strong> Abschnitt c) skizzierten Kernelemente hinaus<br />
zu konkretisieren. Ansätze hierzu lassen sich in qualitativer <strong>und</strong> in quantitativer Hinsicht<br />
formulieren.<br />
(1) Qualitative Ansätze<br />
(1.1) Verfassunggebende Gewalt<br />
Die verfassunggebende Gewalt steht nach der Präambel dem Deutschen Volke zu. Auf ihr<br />
beruht die Verfassung. Sie ist es, die den unabänderlichen Verfassungskern (Art. 79 Abs. 3<br />
GG) konstituiert hat. Über sie kann weder der Gesetzgeber noch der verfassungsändernde<br />
Gesetzgeber verfügen. <strong>Der</strong> Übergang der verfassunggebenden Gewalt an die Europäische<br />
74 Vgl. zur Problematik der Anwendung klassischer Begriffe wie „B<strong>und</strong>esstaat“ usw. auf den europäischen<br />
Integrationsprozeß bereits Murswiek, <strong>Der</strong> Staat 32 (1993), S. 161 (168 f.). Gegen den Streit um<br />
Begriffe statt um Sachfragen im Zusammenhang mit der europäischen Integration <strong>und</strong> insbesondere der<br />
europäischen Staatlichkeit auch Stefan Haack, Verlust der Staatlichkeit, 2007, S. 10 ff., insb. 12 f.