Editorial - Agile
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AGILE - Behinderung und Politik, Ausgabe 01/04<br />
Das Parlament zementiert die Diskriminierung behinderter<br />
Versicherter in der zweiten Säule!<br />
Von Irène Häberle 13<br />
Nur wenige Tage vor der Abstimmung über die Behinderten-Gleichstellungsinitiative im Mai<br />
verabschiedete der Nationalrat im Differenzbereinigungsverfahren eine Ergänzung zum<br />
Artikel 23 des Berufsvorsorgegesetzes (BVG), die - entgegen dem ursprünglichen Willen des<br />
Gesetzgebers - die Diskriminierung behinderter Versicherter durch die Gerichtspraxis der<br />
letzten Jahre zementiert. Inzwischen hat - auf Druck des Vorstehers des Departements des<br />
Innern - im September auch der Ständerat die Fassung des Nationalrates übernommen.<br />
Eingliederung vor Rente?<br />
Im Gegensatz zu andern Staaten kennt das schweizerische Sozialversicherungssystem den<br />
Grundsatz „Eingliederung vor Rente“. Das heisst, Menschen mit einer gesundheitlichen<br />
Schädigung bekommen nicht einfach eine Rente zugesprochen, sondern sind „gezwungen“,<br />
auf dem Arbeitsmarkt ihre verbliebene Arbeitskraft zu verwerten. Der erwähnte Grundsatz ist<br />
sowohl seitens der Beschäftigten als auch des Sozialversicherungssystems und der<br />
Volkswirtschaft klar zu bejahen (selbst wenn, wie im Abstimmungskampf dargelegt wurde,<br />
zur Zeit die Erwerbslosenrate von behinderten Menschen um die 50% beträgt). Der<br />
Gesetzgeber hat mit der Einführung des Obligatoriums der beruflichen Vorsorge am 1.<br />
Januar 1985 diesem Grundsatz Rechnung getragen, indem er die vorbehaltlose Aufnahme<br />
aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu den gleichen Bedingungen forderte. Unter<br />
Einfluss der Versicherungswirtschaft ist die Gerichtspraxis in den letzten Jahren leider dazu<br />
übergegangen, immer mehr gesundheitlich Geschädigte vom obligatorischen Vorsorgeschutz<br />
auszuklammern. Wer heute bei Aufnahme der Erwerbstätigkeit nicht mehr als 80%<br />
erwerbsfähig ist, hat im Invaliditätsfall aus gleicher Ursache keinen Versicherungsschutz zu<br />
erwarten. So hat ein Gericht einer Frau, die 22 Jahre lang zu 80% im gleichen Betrieb<br />
gearbeitet hatte, im Invaliditätsfall selbst die obligatorischen Minimalleistungen ihrer<br />
Pensionskasse verweigert. Dies, obwohl sie wie alle andern Versicherten ihre Beiträge<br />
bezahlt hatte und sich auf Grund ihres Vorsorgeausweises versichert wähnte. (Nach den<br />
neuen Bestimmungen des Nationarates würde sich einzig die Grenze von 80% auf 60%<br />
verringern, aber sonst nichts ändern.)<br />
Am 1. Januar 1995 trat das Freizügigkeitsgesetz in Kraft, das unter anderem in Artikel 14<br />
auch die Erhaltung des Vorsorgeschutzes im überobligatorischen Bereich für Stellenwechsler<br />
regelt. Von den für alle Versicherten vorteilhaften Bestimmungen sind ohne jedwelche<br />
gesetzliche Grundlage wiederum jene Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als einzige<br />
ausgeschlossen, die beim Wechsel des Arbeitgebers und der Pensionskasse nur<br />
teilarbeitsfähig sind. Nur wer gleich vollinvalid wird oder bei Teilarbeitsfähigkeit seine Stelle<br />
nicht wechselt, geniesst den vollen Versicherungsschutz. Auch diese Praxis läuft dem<br />
Grundsatz „Eingliederung vor Rente“ total zuwider.<br />
13 Dr. phil. Irène Häberle, Pensionskassenexpertin und Versicherungsmathematikerin, ist Mitglied der<br />
Eidgenössischen BVG-Kommission<br />
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