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AGILE - Behinderung und Politik, Ausgabe 01/04<br />

Reformen in der Invalidenversicherung sind unumgänglich<br />

Von Colette Nova 1<br />

Vor den eidgenössischen Wahlen haben sich Politiker und die Medien auf die IV gestürzt.<br />

Der positive Aspekt des teilweise hässlichen Getöses: Endlich ist zur Kenntnis genommen<br />

worden, dass bei der IV ein dringender Handlungsbedarf besteht. Seit Jahren wird der<br />

Bevölkerung ein Demographie-Kollaps der AHV eingeredet, und es werden harte<br />

Sparmassnahmen ergriffen (11. AHV-Revision) oder geplant (Rentenaltererhöhung) – völlig<br />

zu Unrecht. Denn es ist nicht die AHV, sondern die IV, die in finanziellen Schwierigkeiten<br />

steckt. Trotz mehrmaligen Finanzspritzen hat sie nämlich Defizite in der Grössenordnung von<br />

1,5 Milliarden Franken pro Jahr, und ihre Schulden bei der AHV beliefen sich Ende 2003 auf<br />

ca. 4,5 Milliarden Franken. Grund: Immer mehr Menschen erhalten eine IV-Rente. Innert 10<br />

Jahren ist die Anzahl RentenbezügerInnen um 65% von 140'000 auf 232'000 angestiegen.<br />

Die Zunahme betrifft vor allem Invaliditäten aus psychischen Gründen, vor allem bei jüngeren<br />

Menschen. Sie hat auch eine Kosten- und Prämienexplosion in der beruflichen Vorsorge zur<br />

Folge. Im europäischen Vergleich hat die Schweiz die grössten Zuwachsraten und am<br />

meisten jüngere NeurentnerInnen. Gerade das ist beunruhigend, da junge<br />

RentenbezügerInnen lange Zeit in der IV bleiben und deshalb hohe Kosten verursachen. Sie<br />

fehlen der AHV und der IV aber auch als "Langzeitzahler". Und obwohl die IV-Rente ihnen<br />

ein zwar tiefes, aber immerhin regelmässiges Einkommen garantiert, bedeutet die Invalidität<br />

für diese Menschen auch eine soziale und wirtschaftliche Marginalisierung. Wenn die Rente<br />

einmal gewährt ist, haben diese Personen nämlich keinen Anreiz, sich wieder in das<br />

Erwerbsleben und die Gesellschaft zu integrieren. Vor allem aber erhalten sie dann dazu<br />

auch keine Hilfe mehr.<br />

Vielfältige und komplexe Gründe für die Zunahme der Invaliditäten<br />

Selbsternannte Experten, die sich gegenseitig mit aus der Luft gegriffenen Zahlen über "IV-<br />

Missbrauch" überbieten, sind in den letzten Monaten wie Pilze aus dem Boden geschossen.<br />

Die Wirklichkeit ist jedoch viel komplexer: Ein unzureichender Gesundheitsschutz am<br />

Arbeitsplatz – vor allem gesundheitlich belastende Arbeitszeiten – sowie ein oftmals extremer<br />

Leistungsdruck, verbunden mit Arbeitsplatz-Unsicherheit, führen zu gesundheitlichen<br />

Problemen und schliesslich zu Invaliditäten. Zudem wollen viele Arbeitgeber Personen mit<br />

reduzierter Leistungsfähigkeit nicht (mehr) beschäftigen und schieben sie in die IV ab.<br />

Nischenjobs und wenig anspruchsvolle Arbeitsplätze sind wegrationalisiert worden, aus<br />

"latenten" Invaliden sind so "offene" Invalide geworden. Ältere ausländische Arbeitnehmende<br />

mit geringer beruflicher Qualifikation haben bei Gesundheitsproblemen kaum Möglichkeiten,<br />

eine neue Stelle in einem anderen Bereich zu finden. Sozialhilfestellen schieben ihre Kunden<br />

ebenfalls gerne in die IV ab, dort sind sie "versorgt" – aber sie erhalten dort auch kein<br />

Coaching mehr. Ärzte in immer grösserer Zahl, insbesondere Psychiater, wollen ihre Praxen<br />

ebenfalls füllen und "medikalisieren" über einen ausgeweiteten Krankheitsbegriff komplexe<br />

Lebensprobleme, deren Ursache und Lösung eigentlich anderswo lägen. Nichtmedizinische,<br />

invaliditätsfremde Faktoren können auf diese Weise in diffuse Krankheitsbilder und<br />

1 Colette Nova ist geschäftsführende Sekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB)<br />

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