Zeitschrift Militärgeschichte [Heft 03/2006]
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Das historische Stichwort<br />
Am 23. Oktober 1956<br />
beginnt in Budapest der<br />
Volksaufstand. Demonstranten<br />
zerstören das<br />
Stalin-Denkmal als sichtbares<br />
Zeichen des alten<br />
Regimes.<br />
Volksaufstand<br />
in Ungarn 1956<br />
»Ungarisches Volk! Die Nationalregierung,<br />
erfüllt von tiefem Verantwortungsgefühl<br />
gegenüber dem ungarischen Volk<br />
und der Geschichte, erklärt die Neutralität<br />
der Ungarischen Volksrepublik ...«<br />
Mit diesen Worten verkündete der<br />
ungarische Ministerpräsident<br />
Imre Nagy (1896–1958) am 1. November<br />
1956 im Rundfunk den Austritt seines<br />
Landes aus der Warschauer Vertragsorganisation.<br />
Nur zwei Tage später<br />
kam es aufgrund sowjetischer Intervention<br />
zur Bildung einer Gegenregierung<br />
unter János Kádár (1912–1989), der bis<br />
dahin ordentliches Regierungsmitglied<br />
und Staatsminister gewesen war. Am<br />
4. November 1956 rückten fünf sowjetische<br />
Divisionen in Budapest ein, weitere<br />
Einheiten überschritten die ungarische<br />
Staatsgrenze noch am selben<br />
Tag. Hilferufe Nagys an die Westmächte<br />
und die Vereinten Nationen blieben<br />
ohne Erfolg. Am 12. November verkündete<br />
die staatliche Presse die Absetzung<br />
Imre Nagys, die Zusammensetzung<br />
der neuen Regierung unter Kádár<br />
wurde bestätigt. Nagy selbst wurde am<br />
22. November trotz gegenteiliger Zusicherung<br />
der Sowjets verhaftet, zunächst<br />
nach Rumänien deportiert und schließlich<br />
1958 in Budapest hingerichtet. Die<br />
Unruhen in Ungarn hielten jedoch bis<br />
in das Jahr 1957 an. Sie wurden schließlich<br />
von ungarischen Sicherheits- und<br />
sowjetischen Streitkräften blutig unterdrückt.<br />
Der Versuch, in Ungarn einen<br />
»Sozialismus mit menschlichem Antlitz«<br />
zu errichten, war gescheitert.<br />
Die Ungarn-Krise kam nicht aus heiterem<br />
Himmel. Nach dem Tod Josef Stalins<br />
(geb. 1878) am 5. März 1953 hatte<br />
sich die sowjetische Staatsführung von<br />
dessen Personenkult abgewandt und<br />
ein System der »kollektiven Führung«<br />
eingeführt. Diese politische Neuorientierung<br />
der Sowjetunion wurde auf andere<br />
Länder des sozialistischen Lagers<br />
übertragen. In Ungarn hatte bis dahin<br />
Mátyás Rákosi (1892 –1971) das Amt<br />
des Präsidenten des Ministerrates sowie<br />
des Generalsekretärs der Ungarischen<br />
Partei der Werktätigen (MDP) in<br />
seiner Person vereint. Aufgrund staatlicher<br />
Repressionen war Rákosi in der<br />
ungarischen Bevölkerung unbeliebt.<br />
Die Korrektur der politischen Richtlinien<br />
in der Sowjetunion machte auch im<br />
stalinistisch geprägten Ungarn eine Revision<br />
nötig. Im Juni 1953 wurde daher<br />
eine ungarische Delegation im Kreml<br />
empfangen. Sie erhielt detaillierte Anweisungen<br />
für einen politischen »Neuen<br />
Kurs«, der auf Repressionen und<br />
überspannte Wirtschaftspläne verzichten<br />
sollte. Zwar blieb Rákosi Generalsekretär<br />
der MDP, zum Ministerpräsidenten<br />
wurde jedoch Imre Nagy ernannt.<br />
Der Verzicht auf eine grundlegende<br />
personelle Neubesetzung der politischen<br />
Ämter hatte zur Folge, dass die<br />
Politik Imre Nagys von den Vertretern<br />
des alten Regimes untergraben wurde.<br />
Zwar beinhaltete der »Neue Kurs« wesentliche<br />
Reformen, wie beispielsweise<br />
die Abschaffung des Zwanges zur Kollektivierung<br />
in der Landwirtschaft sowie<br />
den Aufbau einer gewissen Rechtssicherheit,<br />
trotzdem häuften sich im<br />
Laufe des Jahres 1954 die Auseinandersetzungen<br />
mit dem von Rákosi dominierten<br />
Politischen Ausschuss. Imre<br />
Nagy sprach sich für eine »Machtteilung«<br />
im Staat aus, die einseitige Wechselwirkung<br />
zwischen kommunistischer<br />
Partei und Gesellschaft sollte überwunden<br />
werden. Aus diesem Grund wurde<br />
am 24. Oktober 1954 die Patriotische<br />
Volksfront neu gegründet, eine Massenorganisation<br />
von Parteilosen.<br />
Vor allem der daraufhin gegen den<br />
Ministerpräsidenten erhobene Vorwurf,<br />
nationalistische Politik zu betreiben,<br />
erweiterte sich zu der Grundsatzdiskussion,<br />
ob politisch lediglich die<br />
radikale Rechte oder aber auch die radikale<br />
Linke zu bekämpfen sei. Rákosi<br />
überzeugte die sowjetischen Parteiführer<br />
davon, dass die Politik Nagys eine<br />
Gefahr für alle sozialistischen Staaten<br />
darstelle. Am 18. April 1955 wurde<br />
Nagy vom Amt des Ministerpräsiden-<br />
22 Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 3/<strong>2006</strong>