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Berliner Zeitung 11.10.2018

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10 * <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 237 · D onnerstag, 11. Oktober 2018<br />

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Berlin<br />

„Die Fahrverbote werden nichts bringen“<br />

Ein Dieselfahrer erklärt, warum er die Beschränkungen gelassen sieht. Weil die Polizei kaum kontrollieren kann, werden viele Autofahrer die Schilder ignorieren<br />

VonPeter Neumann<br />

Die Zitterpartie ist vorbei,<br />

Dieselfahrer Raik Ritzau<br />

ist erleichtert. Am Dienstag<br />

hat das Verwaltungsgericht<br />

Berlin in einem lang<br />

erwarteten Urteil entschieden, auf<br />

welchen Straßen der Senat im<br />

kommenden Jahr Dieselfahrverbote<br />

anordnen muss.„Es hat mich<br />

schon überrascht, dass es nur acht<br />

sind. Ich bin nicht betroffen“, sagt<br />

der Pendler, der mit seinem<br />

VW Golf 2.0 TDI an Arbeitstagen<br />

von Ferch im Landkreis Potsdam-<br />

Mittelmark nach Wilmersdorf zur<br />

Arbeit fährt. Im Südwesten Berlins,<br />

den der 42 Jahre alte Angestellte<br />

dabei durchquert, steht nur<br />

ein Teil der Leonorenstraße in<br />

Lankwitz auf der Liste –aber dort<br />

kommt er nicht vorbei. „Solange es<br />

bei acht Straßen bleibt, sind die<br />

Verbote handhabbar“, meint er.<br />

Aber was kommt als Nächstes?<br />

Raik Ritzau teilt das Schicksal<br />

vieler Dieselbesitzer. Auch ihm<br />

war gesagt worden, dass er mit einem<br />

Diesel eine moderne Technologie<br />

erwirbt. Als er im vergangenen<br />

Jahr seinen Kombi (Farbe: Toffee)<br />

kaufte, beglückwünschte der<br />

Autohändler ihn zu seiner Wahl:<br />

Mit einem Euro 5 müsse er sich<br />

über Fahrverbote keine Sorgen<br />

machen. In der Tatsind die Kenndaten<br />

gut. DerWagen hat die Energieeffizienzklasse<br />

A, der Kraftstoffverbrauch<br />

ist gering – meist<br />

nicht mal fünf Liter Diesel auf<br />

hundert Kilometer. „Vor allem<br />

sind die Kohlendioxid-Werte niedrig“<br />

– niedriger als bei Benzinern.<br />

Davonprofitiereauch die Umwelt.<br />

Nur20EuroBußgeld<br />

A100<br />

Neue Kantstr.<br />

A111<br />

Alt-Moabit<br />

(Gotzkowskystr.–<br />

Beusselstr.)<br />

Beusselstr.<br />

Doch nicht zuletzt wegen der<br />

Tricksereien der Autoindustrie steht<br />

der Diesel seit Jahren unter Beobachtung.<br />

Dasbekommen auch die<br />

Autofahrer in Berlin immer stärker<br />

zu spüren. Nach dem Urteil kündigte<br />

Leonorenstr.<br />

(Kaiser-Wilhelm-Str.–<br />

Verkehrssenatorin Regine<br />

Saarburger Str.)<br />

Günther (parteilos, für Grüne) an,<br />

dass die acht Straßen ab Juni oder<br />

Juli 2019 für Diesel-Pkw und Diesel-Lkw<br />

bis Euro 5tabu sein werden.<br />

Die elf Abschnitte, umdie es<br />

geht, summieren sich nach einer<br />

internen Liste auf etwas mehr als<br />

1,1 Kilometer. Die Sperrbereiche<br />

könnten aber auch länger werden,<br />

wenn das erforderlich wird, hieß<br />

es. Doch klar ist: Es wird sich um<br />

punktuelle Maßnahmen handeln.<br />

Wie werden die Dieselfahrer<br />

reagieren? „Ich denke mal, dass<br />

die meisten die Abschnitte erst<br />

mal umfahren“, so Ritzau. Doch<br />

wenn die Pendler merken, dass die<br />

Polizei nicht oder nur selten kontrolliert,<br />

werden sie die Verbotsschilder<br />

ignorieren –und weiter- Raik Ritzau aus Ferch in Brandenburg vor seinem Golf 2.0 TDI Kombi. BELZ/GERD ENGELSMANN<br />

Kapweg<br />

CHARLOTTENBURG<br />

Hindenburgdamm<br />

REINICKENDORF<br />

Stromstr.<br />

(Bugenhagenstr.-<br />

kurz vorder Turmstr.)<br />

MITTE<br />

Turmstr.<br />

Martin-Luther-Str.<br />

A103<br />

Reinickendorfer Str.<br />

Dorotheenstr.<br />

Kolonnenstr.<br />

Invalidenstr.<br />

Prinzenallee<br />

TEMPELHOF-<br />

SCHÖNEBERG<br />

Torstr.<br />

Reinhardtstr.<br />

(Charitéstr.–Kapelle-Ufer)<br />

Leipziger Str.<br />

(Bundesrat<br />

bis Charlottenstr.)<br />

Manteuffelstr.<br />

A100<br />

Friedrichstr.<br />

(Unter den Linden –<br />

Dorotheenstr.)<br />

Brückenstr.<br />

(Köpenicker Str.–<br />

S-Bahnhof Jannowitzbrücke)<br />

Adalbertstr.<br />

Oranienstr.<br />

Sonnenallee<br />

Frankfurter Allee<br />

Elsenstr.<br />

NEUKÖLLN<br />

Hier müssen Autofahrer<br />

mit Fahrbeschränkungen rechnen<br />

Fahrverbot für Diesel-Pkw und Diesel-Lkw<br />

bis Euro 5abSommer 2019<br />

mögliche Umfahrungsstrecken,<br />

Dieselfahrverbote denkbar<br />

mögliche neue Tempo-30-Bereiche<br />

BLZ/HECHER; QUELLE: SENATSVERWALTUNG FÜR UMWELT, VERKEHR UND KLIMASCHUTZ; EIGENE RECHERCHEN<br />

fahren. „Auf Dauer werden die<br />

Fahrverbote nicht kontrollierbar<br />

sein. Ichkann mir nicht vorstellen,<br />

dass die Polizei dafür Zeit und<br />

Muße haben wird. Wie sollte das<br />

auch praktisch funktionieren –<br />

ohne eine Plakette? Die Fahrverbote<br />

werden nichts bringen.“<br />

Und selbst wenn dann doch der<br />

eine oder andere Dieselfahrer von<br />

der Polizei erwischt wird: Das<br />

Bußgeld für Pkw beträgt 20, für<br />

Lkw 75 Euro. Auf jeden Fall wenig<br />

Geld im Vergleich zu den Kosten<br />

eines neuen Autos, mit dem man<br />

in die Fahrverbotsbereiche fahren<br />

dürfte, sagt der Brandenburger.<br />

Trotzdem werde es in jedem<br />

Fall Ausweichverkehr geben, erwartet<br />

Ritzau. Werkein Pendler ist,<br />

oder wer sich als Berufskraftfahrer<br />

penibler als andere andie Regeln<br />

halten muss, wird die gesperrten<br />

Abschnitte umfahren. „Wenn dieser<br />

Verkehr dann durch Wohngebiete<br />

rollt, wird esÄrger mit den<br />

Bewohnern geben. Gut möglich,<br />

dass die Verbotszonen dann ausgeweitet<br />

werden müssen.“<br />

Anwalt erwartet weitere Klagen<br />

Davongeht auch Rechtsanwalt Peter<br />

Kremer aus –erhat die Deutsche<br />

Umwelthilfe in dem Verfahren<br />

gegen das Land Berlin vertreten.<br />

Noch liege die Begründung<br />

des Gerichtsurteils zu den Fahrverboten<br />

nicht vor, doch die Hinweise<br />

der Richter während des Termins<br />

am Dienstag seien aufschlussreich<br />

gewesen, so der Jurist. „Sie haben<br />

bestätigt, dass es nicht auf einen<br />

durchschnittlichen Wert ankommt,<br />

sonderndass der Grenzwertanjeder<br />

Stelle in der Stadt eingehalten werden<br />

muss.Jeder Anwohner kann das<br />

jetzt vomSenat für sein Haus verlangen“,<br />

sagt Kremer. „Der Senat muss<br />

nachweisen, dass er mit streckenbezogenen<br />

Fahrverboten und den damit<br />

einhergehenden Ausweichverkehren<br />

das Problem der Luftbelastung<br />

in den Griff bekommt. Gelingt<br />

das bis Ende März 2019 nicht, wird<br />

der Senat um ein zonales Fahrverbot<br />

nicht herumkommen“ –ein Fahrverbot,<br />

das die gesamte Umweltzone innerhalb<br />

der Ringbahn umfasst.<br />

Raik Ritzau ist davon überzeugt,<br />

dass es nicht bei den elf Fahrverbotsabschnitten<br />

bleiben wird. „Doch die<br />

Politik reagiert nur, einen Plan hat<br />

sie nicht“, sagt er. Als Brandenburger<br />

würde er gernauf die Bahn umsteigen,<br />

„doch es gibt keine Parkand-Ride-Plätze.“<br />

Auf jeden Fall<br />

bleibe der Diesel in der Kritik, es<br />

werden immer mehr Benziner gekauft,<br />

auch in Berlin und Brandenburg.<br />

„In wenigen Jahren werden<br />

wir uns darüber wundern, dass die<br />

Kohlendioxidwerte steigen“ –dann<br />

haben die Politik und die Autofahrerdas<br />

nächste Problem.<br />

Jedes sechste Auto ist betroffen<br />

Nach dem Diesel-Urteil: Wo dürfen ältere Autos künftig nicht mehr fahren? Gibt es Ausnahmen? Kommt jetzt noch mehr Tempo 30? Hat die Politik genug getan? Fragen und Antworten<br />

Das Urteil zum Diesel ist gesprochen<br />

–und reiht Berlin damit<br />

ein in eine Reihe mit Hamburg,<br />

Stuttgart oder Frankfurt, wo schon<br />

Teilverbote für Diesel-Fahrzeuge bestehen.<br />

DasUrteil auf Klage der Umwelthilfe<br />

ist auch ein Schlag gegen<br />

die Bundesregierung, die mit einem<br />

Maßnahmen-Paket gegen Fahrverbote<br />

die Diesel-Unsicherheit beenden<br />

wollte –nun schafft erneut ein<br />

Gericht Fakten. EinÜberblick:<br />

Waskommt auf Autofahrer zu?<br />

Das Gericht hat das Land Berlin<br />

verpflichtet, Diesel-Fahrverbote für<br />

mindestens elf Straßenabschnitte in<br />

der Innenstadt zu verhängen. Dort<br />

dürfen laut Urteil spätestens ab Ende<br />

Juni 2019 keine Diesel-Pkw und<br />

keine Diesel-Lkw der Euro-Abgasnormen<br />

1bis 5mehr fahren. Außerdem<br />

muss das Land für weitere<br />

117 Straßenabschnitte mit einer Gesamtlänge<br />

von 15Kilometern prüfen,<br />

ob Verbote nötig sind, um den<br />

Stickstoffdioxid-Grenzwert dort einzuhalten.Wieder<br />

neue <strong>Berliner</strong> Luftreinhalteplan,<br />

der bis zum 31. März<br />

2019 fertig sein muss,konkret aussehen<br />

wird, will der Senat noch erörtern.<br />

Das Gericht hat zum Beispiel<br />

für Taxis, Firmenwagen und andere<br />

Fahrzeuge Ausnahmen erlaubt, das<br />

Land habe den entsprechenden<br />

„Gestaltungsspielraum“.<br />

Wie viele Menschen wären von einem<br />

Fahrverbot betroffen?<br />

Auf jeden Fall Zehntausende. Im<br />

Detail hängt das davon ab, wodie<br />

Fahrverbote vom Land letztlich eingeführt<br />

werden. Die Umwelthilfe<br />

wollte sie für Diesel der Abgasnormen<br />

Euro 1bis Euro 5inder gesamten<br />

Innenstadt durchsetzen –das ist<br />

ihr nicht gelungen. Manche dieser<br />

Autos sind erst drei bis vier Jahrealt.<br />

Wie viele Diesel-Fahrzeuge gibt es in<br />

Berlin?<br />

Nach den Daten des Kraftfahrt-<br />

Bundesamtes (KBA) waren Anfang<br />

2018 in Berlin mehr als 218 000 Diesel-Pkw<br />

zugelassen, die unter Euro 1<br />

bis Euro 5fielen. Das entspricht jedem<br />

sechsten Auto. Hinzu kommen<br />

Lkw und Busse sowie Autos von Besuchernoder<br />

Pendlern.<br />

Welche Strecken könnten in Berlin<br />

gesperrt werden?<br />

Das Gericht hat elf Straßenabschnitte<br />

festgelegt. Es könnten aber<br />

noch mehr werden – je nachdem,<br />

wie notwendig das aus Sicht des Senats<br />

erscheint. Zu den elf Abschnitten,<br />

die auf jeden Fall für ältere Diesel<br />

gesperrtwerden, gehören Achsen<br />

wie die Leipziger Straße, die Friedrichstraße<br />

und die Brückenstraße.<br />

Warumwird so ein Aufhebens um Dieselmotoren<br />

gemacht?<br />

Dasliegt an der schlechten Luft in<br />

Städten. Der Grenzwert für Stickstoffdioxid<br />

(NO 2 )wirdoft überschritten.<br />

Der Stoff kann die Lungenfunktion<br />

stören oder zu Herz-Kreislauf-<br />

Erkrankungen führen. Erlaubt ist im<br />

Jahresmittel eine Belastung von 40<br />

Mikrogramm pro Kubikmeter Luft.<br />

In Berlin lag der Wert voriges Jahr bei<br />

49 Mikrogramm. Die Werte müssen<br />

also runter –und Autoabgase sind<br />

ein wichtiger Faktor. 75Prozent des<br />

Stickstoffdioxids stammt aus dem<br />

Straßenverkehr, davon 88 Prozent<br />

aus Dieselfahrzeugen.<br />

Gibt es keinen anderen Weg, um die<br />

Luft zu verbessen?<br />

Seit ihrem Antritt habe der Senat<br />

„systematisch Maßnahmen zur Luftverbesserung<br />

auf den Weg gebracht“,<br />

sagt Senatorin Regine Günther<br />

(parteilos,für Grüne). Busse sollen<br />

Abgasfilter bekommen und ab<br />

dem Jahr 2030 elektrisch fahren.<br />

Radwege werden ausgebaut. Autos<br />

dürfen auf fünf Hauptstraßen testweise<br />

nur Tempo 30 fahren –inder<br />

Hoffnung, dass sie seltener bremsen<br />

und anfahren und damit weniger<br />

Schadstoffe ausstoßen. Doch dem<br />

Gericht reichte all das nicht. DieWirkung<br />

des Zehn-Punkte-Programms<br />

sei „nicht quantifizierbar und nicht<br />

absehbar“, heißt es.<br />

Die Bundesregierung hat einen neuen<br />

Plan vorgelegt –was bringt der?<br />

Der Bund hat bereits ein Milliardenprogramm<br />

für bessere Luft in<br />

Städten auf den Weggebracht –zum<br />

Beispiel, um den öffentlichen Nahverkehr<br />

attraktiver zu machen oder<br />

Busse zu erneuern. Dazu kommt ein<br />

Paket, das Kaufanreizeder Hersteller<br />

vorsieht, um von alten auf neuere<br />

und sauberere Diesel umzusteigen.<br />

Daneben soll es Hardware-Nachrüstungen<br />

geben, also Umbauten am<br />

Motor. Die Hersteller ziehen aber<br />

nicht mit, weil sie alle Kosten übernehmen<br />

sollen.<br />

Zählen Autofahrer in Berlin überhaupt<br />

zu dem Paketdazu?<br />

Dasneue Programm zielt auf bisher<br />

14 Städte, indenen die Luft am<br />

schlechtesten ist. Berlin könnte jetzt<br />

dazukommen, weil das Gericht nun<br />

indirekt Fahrverbote angeordnet<br />

hat. Ob Berlin in diesen Kreis aufgenommen<br />

wird, ließ die Bundesregierung<br />

am Dienstag zunächst noch offen.<br />

(dpa/pn.)

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