Berliner Zeitung 11.10.2018
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8* <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 237 · D onnerstag, 11. Oktober 2018<br />
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Meinung<br />
Klimaschutz<br />
ZITAT<br />
Die überforderte<br />
Regierung<br />
Frank-Thomas Wenzel<br />
meint, dass die große Koalition viel<br />
zu wenig für die Zukunft tut.<br />
Umweltministerin Svenja Schulze<br />
(SPD) ist aktuell wohl das beste Beispiel<br />
für die Inkonsequenz in der Bundesregierung.<br />
Am Montag, bei der Vorstellung<br />
des Berichts desWeltklimarats,betonte sie:<br />
„Wir dürfen beim Klimaschutz keine Zeit<br />
mehr verlieren.“ Tags drauf reiste sie nach<br />
Brüssel, um über CO 2 -Grenzwerte für Pkw<br />
zu verhandeln. Dort machte sie sich für<br />
eine moderate Verschärfung der Vorgaben<br />
bis 2030 stark. Sieselbst würde eine härtere<br />
Gangartbevorzugen, doch sie handelte im<br />
Auftrag der Koalition.<br />
Schließlich stimmte sie einem klassischen<br />
Brüsseler Kompromiss zu: Etwas<br />
mehr als eine Halbierung der durchschnittlichen<br />
CO 2 -Emissionen der Neuwagenflotten<br />
bis 2030. Unter Wissenschaftlern<br />
besteht kein Zweifel, dass dies<br />
keinesfalls reicht, um einen angemessenen<br />
Beitrag am Klimaschutz zu erzielen:<br />
Bei einer Umsetzung des Kompromisses<br />
würde wertvolle Zeit verschenkt.<br />
Schulze steht beispielhaft für die Regierung.<br />
Vollmundige Bekenntnisse zu<br />
großen ökologischen Zielen werden<br />
durch kleinmütige Entscheidungen und<br />
faule Kompromisse dementiert. Sei es<br />
beim Ausbau der erneuerbaren Energien,<br />
bei sauberer Luft in Städten, beim Kohleausstieg<br />
oder bei klimafreundlicher Mobilität.<br />
So macht man sich unglaubwürdig.<br />
Und braucht sich nicht zu wundern,<br />
dass einem die Wähler davonlaufen. In<br />
Sachen Klimaschutz und Autos wird es<br />
höchste Zeit, ein Konzept durchzudeklinieren,<br />
mit dem der Strukturwandel einer<br />
Kernbranche für die nächste Dekade organisiert<br />
wird. Der großen Koalition ist<br />
das nur schwer zuzutrauen. Sie wirkt<br />
schon bei der vergleichsweise simplen<br />
Aufgabe des Ausstiegs aus der Braunkohleverstromung<br />
völlig überfordert.<br />
Rüstungsexporte<br />
Schluss mit der<br />
Geheimniskrämerei<br />
Andreas Niesmann<br />
meint, das für diese Geschäfte<br />
neue Regeln gelten müssen.<br />
Bei Rüstungsexporten folgten Bundesregierungen<br />
über Jahrzehnte der Devise<br />
„was schwimmt, geht“. Übersetzt<br />
hieß das: DieAusfuhr eines Kriegsschiffes<br />
war kein Problem, die eines Panzers<br />
schon eher.Was vor allem daran lag, dass<br />
man mit einem Schiff der eigenen inländischen<br />
Opposition weniger Schaden zufügen<br />
kann als mit einem Panzer. Der<br />
Streit in der SPD um die Lieferung von<br />
Patrouillenbooten nach Saudi-Arabien<br />
zeigt jedoch, dass dieser Grundsatz nicht<br />
mehr gilt.<br />
Die Gesellschaft ist kritischer geworden.<br />
Über Waffenexporte an Länder, die<br />
Krieg führen oder Menschenrechte mit<br />
Füßen treten, sehen die Menschen nicht<br />
mehr so leicht wie früher hinweg. Für die<br />
Abgeordneten der etablierten Parteien<br />
wiederum gilt, dass der Druck, den sie<br />
verspüren, so groß ist, dass sie eine unpopuläre<br />
Exportentscheidung nicht mehr<br />
gegen den Protest ihrer Basis vertreten<br />
können –oder wollen.<br />
Das ist keine schlechte Entwicklung.<br />
Besser wäre sie freilich noch, wenn auch<br />
die Regeln, unter denen Exportgenehmigung<br />
für Kriegswaffen zustande kommen,<br />
der neuen Realität angepasst würden. Es<br />
ist Zeit, die Geheimniskrämerei im Bundessicherheitsrat<br />
zu beenden. Es ist niemandem<br />
mehr zu vermitteln, dass Abgeordnete<br />
des Deutschen Bundestags von<br />
Kriegswaffenexporten aus der <strong>Zeitung</strong> erfahren.<br />
Der Vorschlag, einen vertraulichen<br />
Parlamentsausschuss ähnlich dem<br />
Kontrollgremium für Geheimdienste zu<br />
schaffen, ist deshalb eine gute Idee. Ein<br />
solches Gremium wäre ein erster wichtiger<br />
Schritt, um Transparenz zu schaffen<br />
und Vertrauen wiederherzustellen. Er<br />
sollte in die Tatumgesetzt werden.<br />
SeehofersNerven liegen blank.<br />
Die Pflegeversicherung wird für<br />
die Beitragszahler teurer – um<br />
fast 20 Prozent. Unter dem Strich<br />
ändert sich zu Jahresbeginn für<br />
Millionen sozialversicherungspflichtig beschäftigte<br />
Arbeitnehmer in Deutschland jedoch<br />
wenig. Der Grund dafür ist die Entscheidung,<br />
den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung<br />
2019 um 0,6 Prozentpunkte<br />
zu senken. Wer im kommenden Jahr auf<br />
seine Lohnabrechnung schaut, wirdvon den<br />
Veränderungen, die in diesem Herbst von<br />
Kabinett und Parlament beschlossen werden,<br />
kaum etwas bemerken. Dierechnerisch<br />
mögliche und eigentlich gebotene Senkung<br />
des Rentenbeitrags, das kommt noch hinzu,<br />
lässt die Koalition ausfallen.<br />
Die milliardenschweren Polster in unseren<br />
Sozialversicherungen haben die Politik<br />
bequem gemacht. Das führt dazu, dass eigentlich<br />
nur noch über zusätzliche Leistungen<br />
geredet wird, zumeist über welche, die<br />
nicht zugeschnitten sind auf wenige wirklich<br />
Bedürftige,sonderngleichmäßig auf alle verteilt<br />
werden. Über den Taghinausgedacht<br />
wirdjedenfalls nicht.<br />
Viel hilft viel, auch gegen rechte Populisten<br />
– mit dieser Philosophie wird die Debatte<br />
über die Zukunft des Sozialstaats gerade geführt.<br />
Über kluge Prioritäten gibt es kaum<br />
noch Streit. Fragen, die über den nächsten<br />
Wahltermin hinausgehen, politische Kraft,<br />
Kreativität und Entschlossenheit erfordern<br />
würden, werden wie bei der Rente vertagt und<br />
Expertenkommissionen übertragen. Bis auf<br />
weiteres gilt:Verteilen first, Zukunft second.<br />
Um keine Missverständnisse aufkommen<br />
zu lassen: Mehr Geld in die Pflege zu investieren,<br />
ist unbedingt notwendig und lange<br />
überfällig. Die zusätzlichen Milliarden helfen<br />
erst einmal zu verhindern, dass die Pfle-<br />
Was denkt der unfreiwillige Single um<br />
diese Zeit? Bald ist wieder Weihnachten,<br />
denkt er, und dann auch noch Silvester.<br />
Jetzt sollte sich der unfreiwillige Single einen<br />
Mann oder eine Frau suchen, wenn er<br />
bei den großen Festen nicht der Einsame unter<br />
Paaren sein will. Er kann sich in der richtigen<br />
Welt umsehen oder in der Welt der Anzeigen.<br />
Nicht grundlos machen viele Annoncen<br />
etwas Druck: „Einladung zum Herbstspaziergang“,<br />
„Weihnachten allein?“<br />
„Vorfreude gesucht!“ „Tanzen wir in St. Petersburg<br />
ins Jahr 2019?“ Wasnun: Anzeigen<br />
aufgeben oder Anzeigen lesen? Beides?<br />
Vor Unentschlossenheit warnte –wenn<br />
auch im tiefen symbolischen Zusammenhang<br />
– Rainer Maria Rilke im Gedicht<br />
„Herbsttag“: „Wer jetzt kein Haus hat, baut<br />
sich keines mehr./Werjetzt allein ist, wirdes<br />
lange bleiben, /wird wachen, lesen, lange<br />
Briefe schreiben /und wirdinden Alleen hin<br />
und her /unruhig wandern, wenn die Blätter<br />
treiben.“ Singles sind Verlassene, Geflüchtete,<br />
Abwartende, Ungeküsste, Freiwillige,<br />
Verwitwete.Wenn sie inserieren, suchen sie<br />
nach passenden Worten, die das Wünschenswerte<br />
und das Angebotene in ein<br />
Tauschangebot kleiden.<br />
Die erste bekannte Kontaktanzeige erschien<br />
am 19. Juli 1695 in England in der Wochenzeitung<br />
Acollection for improvement of<br />
husbandry and trade („Sammlung für den<br />
Fortschritt in Landwirtschaft und Handel“)<br />
und lautete:„Ein Herr vonetwa 30 Jahren mit<br />
ansehnlichem Besitz sucht eine junge Dame<br />
Pflegeversicherung<br />
Warten auf<br />
den Knall<br />
Rasmus Buchsteiner<br />
über die Trägheit der großen Koalition, die uns allen<br />
bald teuer zu stehen kommen wird.<br />
geversicherung weiter in die Defizitzone abrutscht.Wenn<br />
ein Sektor in den vergangenen<br />
Jahren chronisch unterfinanziert war, dann<br />
dieser. Mit der Erhöhung der Pflegebeiträge<br />
verschafft sich Bundesgesundheitsminister<br />
Jens Spahn allerdings nicht mehr als einen<br />
Zeitgewinn. Der CDU-Mann spricht in diesen<br />
Tagen viel über gute Pflege,über bessere<br />
Personalschlüssel, über Tariflöhne.Bald werden<br />
auch die Sätze, die von den Kassen für<br />
Heimplätze und häusliche Pflege gezahlt<br />
werden, an die Preisentwicklung angepasst<br />
werden müssen, um eine finanzielle Überforderung<br />
von Pflegebedürftigen und ihren<br />
Angehörigen zu verhindern.<br />
All das wird Geld kosten, viel Geld. Man<br />
muss kein Prophet sein, um vorherzusagen,<br />
KOLUMNE<br />
Zwei Muttis<br />
und die nackte<br />
Hilde<br />
Regine Sylvester<br />
Autorin<br />
mit einem Vermögen voncirca 3000 Pfund.“<br />
Etwas vage erscheint der „ansehnliche Besitz“<br />
im Verhältnis zu den erwünschten<br />
„3 000 Pfund“. So war das von Anfang an:<br />
Werinseriert, der hat Interessen.<br />
2015 zeigten Roger Willemsen und Katrin<br />
Bauerfeind ein Bühnenprogramm: „Die<br />
wunderbare Welt der Kontaktanzeigen“. Sie<br />
haben klare Belege für das Geschäft mit Interessen<br />
gefunden: „Attraktive Blonde,<br />
BERLINER ZEITUNG/HEIKO SAKURAI<br />
dass Spahn vor der nächsten Bundestagswahl<br />
bei der Pflege zusätzliche Mittel benötigen<br />
wird. DieBeiträge dürften weiter steigen.<br />
Spätestens dann dürfte die Debatte über<br />
die Gesamtbelastung neu beginnen, über die<br />
Grenzedes Zumutbaren für Arbeitgeber und<br />
Beschäftigte. Immer stärker werden auch<br />
Versäumnisse an anderer Stelle in den Blick<br />
geraten: Dass man denVerlockungen der guten<br />
Zeiten nicht ausreichend widerstanden<br />
hat; Dass man angesichts komfortabler<br />
Rücklagen in der Krankenversicherung darauf<br />
verzichtet hat, den Anstieg der Ausgaben<br />
für Arzneimittel und Ärztehonorare zubegrenzen<br />
oder dass in Sachen Alterssicherung<br />
teure Beschlüsse gefasst worden sind, die in<br />
schlechteren Zeiten riesige Löcher in die<br />
Rentenkasse reißen werden.<br />
Ohne grundlegenden Kurswechsel werden<br />
schon in der ersten Hälfte des kommenden<br />
Jahrzehnts Sozial- und Rentenbeiträge als<br />
auch der Steuerzuschuss zur Rentenversicherung<br />
rasant steigen. In einigen Sätzen des Gesetzentwurfes<br />
zu den höheren Pflegebeiträgen<br />
lässt sich das bereits jetzt schon nachlesen.<br />
Ab 2025 dürfte sich das Ganze noch beschleunigen,<br />
weil dann die Babyboomer in<br />
Rente gehen. Jetzt wäre noch Zeit, um die<br />
drohende Krise unseres Wohlfahrtsstaates<br />
zu verhindern. Etwa über einen neuen Vorsorgefonds<br />
in den Sozialkassen, mit dessen<br />
Hilfe steigende Belastungen abgefedertwerden<br />
könnten. Oder über höhere Beitragsbemessungsgrenzen,<br />
die Top-Verdienernmehr<br />
für die Solidargemeinschaft abverlangen<br />
würden.<br />
Doch die Regierung setzt auf ruhige<br />
Hand, wartet ab, geht Konflikten aus dem<br />
Weg. Es ist ein Grundproblem dieser Koalition.<br />
Bei der Pflege sind die Folgen davon<br />
nicht hinnehmbar.<br />
schlank, sucht gepflegten, gutaussehenden<br />
Mann, mit dem sie sein Geld ausgegeben<br />
kann.“ Bei der Formulierung einer Kontaktanzeige<br />
kann auch Resignation durchbrechen:„Bin<br />
Rentner,72, und suche jemanden,<br />
der das Leben genauso satt hat wie ich.“<br />
Oder Hilferufe:„Ich verliereden Boden unter<br />
den Füßen. Werschiebt mir eine Yacht drunter?“<br />
Oder etwas Spezielles: „Alleinstehender<br />
Mann, der auf Kettensägen und Eishockeymasken<br />
steht, sucht gleichgesinnte Frau.<br />
Keine Verrückten bitte.“<br />
Viele Leute lesen Kontaktanzeigen. Was<br />
läuft denn so?Wasgeht nicht mehr? Typische<br />
DDR-Formulierungen sind selten geworden:<br />
„Mutti sucht nach schwerer Enttäuschung“<br />
oder, wenn sich Freundinnen zusammentaten:<br />
„ZweiMuttissuchen nach schwerer Enttäuschung“.<br />
Der Wunsch nach „m.-l. WA“,<br />
nach marxistisch-leninistischer Weltanschauung,<br />
kommt gar nicht mehr vor.<br />
In den Anzeigen des seriösen Zeit-Magazins<br />
wünschen sich erstaunlich oft gutaussehende<br />
Männer, ältere Frauen verwöhnen zu<br />
dürfen. Müssen die Frauen bezahlen, wissen<br />
die das vorher? Sehr viele Anzeigen kommen<br />
vonAgenturen, und die übertreiben. Frauen<br />
und Männer werden mit Superlativen beschrieben<br />
–man kann gar nicht verstehen,<br />
warum die überhaupt annoncieren müssen.<br />
Am Montag las ich in einer Tageszeitung<br />
eine vergleichsweise bescheidene Annonce:<br />
„Nackte Hilde (67)“, es folgte eine<br />
Handynummer. Mehr nicht. Was sagt man<br />
da am Telefon?<br />
„Ich bin nicht<br />
mehr für die Quote.<br />
Die Quote ist viel zu<br />
schwach.<br />
Ich bin jetzt für Parität.“<br />
Rita Süssmuth, frühere Familienministerin<br />
im Kabinett von Helmut Kohl und langjährige<br />
Bundestagspräsidentin, in der<br />
Spiegel-Sonderausgabe<br />
AUSLESE<br />
Ein Verbot, das<br />
ratlos macht<br />
Auch in Berlin gibt es ab 2019 Fahrverbote<br />
für die Diesel-Autos.„Welch eine<br />
Aufregung um ein paar Meter“, kommentiert<br />
der Tagesspiegel dazu. „Fahrverbot!<br />
Das klingt viel dramatischer, als es am<br />
Ende bei den paar Straßen sein wird. Sicher,<br />
eswird unbequemer, wenn ein als<br />
Stinker eingestufter Dieselfahrer die gesperrten<br />
Abschnitte tatsächlich umkurvt.<br />
Doch was passiert, wenn man sich nicht<br />
ans Verbot hält? Mit anSicherheit grenzender<br />
Wahrscheinlichkeit gar nichts.“<br />
„Die Pflicht des Staates, die Gesundheit<br />
seiner Bürger zu schützen, tritt die<br />
Bundesregierung mit Füßen“, meinen die<br />
Nürnberger Nachrichten. „Mindestens<br />
ebenso bedenklich ist die Untätigkeit, die<br />
das CSU-geführte Verkehrsministerium<br />
seit Beginn des Dieselskandals an den Tag<br />
legt. Seit inzwischen drei Jahren lässt es<br />
sich vonder Automobilindustrie ... auf der<br />
Nase herumtanzen.“<br />
Bei der Frankfurter Allgemeinen <strong>Zeitung</strong><br />
ist man der Meinung, dass gar kein<br />
anderes Urteil möglich war. „Ein Gericht<br />
kann weder Messergebnisse ignorieren,<br />
noch die strenge, aber gleichfalls stringente<br />
Argumentation des Bundesverwaltungsgerichts<br />
in dessen Diesel-Urteil<br />
wegwischen“, heißt es dort. „Dennoch:<br />
Dieselfahrverbote machen Bürger und<br />
Betriebe ratlos. Esist tragisch, dass das<br />
strauchelnde Projekt Europa sich auf<br />
diese Weise immer wieder durch verkopfte,<br />
wirtschaftsfeindliche Regeln hervortut.“<br />
Christine Dankbar<br />
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