Berliner Zeitung 13./14.10.2018
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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 239 · 1 3./14. Oktober 2018 27<br />
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Feuilleton<br />
Wievon<br />
einem anderen<br />
Stern<br />
Ein Quantensprung: „Vivid“<br />
im Friedrichstadt-Palast<br />
VonBirgit Walter<br />
parat: Man soll sich auf eine blaue<br />
Liege legen und die zarte Wurzel eines<br />
Setzlings in den Mund nehmen,<br />
um sie mit Spucke zu bewässern.<br />
Wasvielleicht eine Geste in Richtung<br />
des tschechischen Künstlers Petr<br />
Štembera ist, der sich 1975 einen<br />
Zweig in die Blutbahn des linken Armes<br />
pfropfte. Aber eine doch recht<br />
schlichte Geste. Und kokett. Noch<br />
lieber hätte es der Baum sicher,<br />
wenn man ihn einfach in Ruhe ließe.<br />
Tatsächlich gibt es wohl nicht<br />
wirklich etwas, was man als Mensch<br />
einem Baum sinnvollerweise geben<br />
kann. Gerade die sogenannte „Waldpflege“<br />
hat sich ja als Euphemismus<br />
erwiesen: Dass Bäume gefällt werden<br />
müssen, wenn sie zu dicht<br />
wachsen, weil sie sich gegenseitig<br />
das Licht wegnehmen, leuchtete<br />
jahrhundertelang ein. Licht ist Leben.<br />
Der dazugehörige Gedanke<br />
aber ist: Das können die dummen<br />
Bäume ja nicht wissen. Auf die Idee<br />
zu kommen, dass der Engstand eine<br />
bewusste Maßnahme ist, um langsames<br />
Wachstum und dadurch eine<br />
größere Festigkeit des Holzes zu bewirken,<br />
setzt ein Schauen voraus,<br />
das nicht auf den menschlichen<br />
Bauchnabel zentriertist. DieDemut,<br />
dass das Fremde nicht immer falsch<br />
ist, sondern esDinge gibt, die unseren<br />
Horizont übersteigen. Engstehende<br />
Buchen wachsen für Jahrhunderte.<br />
Und durch Verpflanzung<br />
werden Wurzeln, so der Förster Peter<br />
Wohlleben, dauerhaft beschädigt.<br />
Besser also keinen Baum pflanzen,<br />
sondern: ihn aus einem Samen ziehen.<br />
Aufdem Holzweg<br />
Apropos Sprichwörter:Den Wald vor<br />
lauter Bäumen nicht sehen / Wie<br />
man in den Wald hineinruft, so<br />
schallt es heraus /Einen alten Baum<br />
verpflanzt man nicht / Aus einem<br />
bestimmten Holz geschnitzt sein /<br />
Mansägt nicht am Ast, auf dem man<br />
sitzt /Sich einen Ast lachen /Dabist<br />
du auf dem Holzweg /Mit jemandem<br />
durch dick und dünn gehen.<br />
DerWald, so Sara Maitlin in ihrem<br />
(von der Baumstylistin Samm Lewis<br />
empfohlenen) Buch, für das sie im<br />
Laufe eines Jahres zwölf britische<br />
Forste besuchte und sich mit der Bedeutung<br />
des Waldes für Märchen beschäftigte,sei<br />
das mitteleuropäische<br />
Referenzsystem Nummer eins. Er<br />
präge unser Denken, unserekollektiven<br />
Vorstellungen, auch von uns<br />
selbst. DasMotiv desVerlorengehens<br />
und Findens etwa sei in anderen Klimazonen<br />
nicht verbreitet. Der Wald<br />
sei das ewig Janusköpfige: Schutz<br />
und Bedrohung, Glück und Verderben,<br />
wobei sich das eine umstandslos<br />
in das andere zu verwandeln<br />
pflege. Dabraucht es keinen erneuten<br />
Blick in Grimms Märchensammlung.<br />
Die Erinnerung genügt: das<br />
arme Mädchen, das zur Prinzessin<br />
wird, die Königin, die eine Hexe ist,<br />
der Bär, der ein Prinz ist ... Bei den<br />
Grimms irren die Helden immerzu<br />
im Wald herum, fischen im Trüben<br />
oder wagen sich ins Dunkle,umsich<br />
zu finden. In den „Geschichten aus<br />
1001 Nacht“ gehen sie mit geblähten<br />
Segeln unter weiten Himmeln auf<br />
Entdeckungsfahrt.<br />
Kultur –nur draußen?<br />
Fast 29 000 Hektar Wald gibt es auf<br />
<strong>Berliner</strong> Stadtgebiet. Gepflanzter<br />
Wald allerdings, kein gewachsener,<br />
natürlicher,und insofernist das,was<br />
uns im Alltag tatsächlich umgibt,<br />
wohl keineswegs so magisch wie in<br />
all den Baumflüsterbüchern beschrieben.<br />
Straßenbäumen und gepflanzten<br />
Bäumen, so Förster Wohlleben,<br />
mangle es an sozialem Verständnis<br />
und am Verteidigungswissen<br />
der Alten. Sind gepflanzte<br />
Wälder demnach keine Natur, sondern<br />
bloß Dekor, eine Gruppe von<br />
Baum-Performern–Kultur,nur eben<br />
draußen?<br />
Diesüdafrikanische Komponistin<br />
Cobi van Tonder glaubt auch unter<br />
vermindernden Umständen an das<br />
Wesen Baum als etwas Fühlendes,<br />
Atmendes und Interagierendes und<br />
installierte im Düppeler Forst „Musik<br />
für Bäume“. Nimm dir eine der<br />
kleinen Lautsprecherboxen, die sie<br />
mit Klang programmierthat, gehe zu<br />
einem Baum deiner Wahl, richte den<br />
Schall auf ihn und imaginiere, er,der<br />
Schall, komme aus dir.„Bäume reagieren<br />
mit chemischen Prozessen<br />
schon darauf, wenn man schlicht an<br />
sie denkt“, sagt van Tonder und bezieht<br />
sich damit wohl auf die legendären<br />
Ergebnisse des CIA-Mitarbeiters<br />
Cleve Backster (1924–2013), der<br />
nur zum Spaß in den Siebzigern einen<br />
Lügendetektor an eine Pflanze<br />
anschloss und schockiert feststellte,<br />
dass diese auf die schieren Absichten<br />
der Personen reagierte, die in ihre<br />
Nähe kamen. Verifiziert werden<br />
konnte dieses Experiment seither<br />
nicht, aber Backster-Anhänger sagen,<br />
die Wiederholungen seien nur<br />
nicht korrekt durchgeführt worden.<br />
Der „grüne Daumen“ indessen ist<br />
Konsens. Wer keine Pflanzen mag,<br />
kann auch gleich darauf verzichten,<br />
sie zu gießen.<br />
AufLeben und Tod<br />
Wasalso hat der Mensch derzeit mit<br />
dem Baum oder erhofft er sich oder<br />
will er wiedergutmachen durch<br />
plötzliche Nahsicht nach all dieser<br />
Zeit? Hat uns die digitale Revolution<br />
die Augen geöffnet für das Schwarmbewusstsein<br />
dieser Erdenmitbewohner?<br />
Hat die Beschäftigung mit<br />
Künstlicher Intelligenz von den Vorurteilen<br />
befreit, dass etwas, was uns<br />
nicht ähnlich sieht, einen Verstand<br />
eigener Art haben könnte? Sind<br />
Milan Knížák: Freundschaft mit einem Baum, 1980<br />
Fortsetzung von Milan Knížáks Projekt durch Samm Lewis, 2018<br />
COURTESY THE ARTIST<br />
PETRA KOHSE<br />
Bäume als Organismen nach den<br />
Tieren jetzt einfach an der Reihe,<br />
nicht nur als Untertanen wahrgenommen<br />
zu werden? Istesdie Sehnsucht<br />
nach der Wiege unseres Daseins,<br />
die wir im Augenblick ihrer<br />
maximalen Bedrohtheit in Forschung,<br />
Fürsorge und auch erneuten<br />
politischen Aktivismus übersetzen?<br />
Vorvierzig Jahren protestierte man<br />
für den Erhalt eines vermeintlichen<br />
ökologischen Gleichgewichts.Inzwischen<br />
geht es –wie im Hambacher<br />
Forst –auf Leben und Tod.<br />
Geheimnis des Widerstands<br />
GETTY<br />
Vorsicht walten lassen sollte man in<br />
jedem Fall und genau darüber nachdenken,<br />
wer von einer Wahrnehmung<br />
auf Augenhöhe wohl am meisten<br />
profitieren könnte. Und wie genau.<br />
Gleich im ersten Kapitel seines<br />
Romans thematisiert Richard Powers<br />
das große Kastaniensterben in<br />
den USA vor etwa einem Jahrhundert<br />
aufgrund einer Pilzerkrankung.<br />
„Die Seuche verbreitet sich entlang<br />
Kammlinien, lässt die Wälder auf<br />
den Höhen einen nach dem anderen<br />
absterben. (...) Holzfäller schlagen<br />
im Laufschritt ein Dutzend Staaten<br />
kahl, um abzuernten, bevor der Pilz<br />
kommt. Die erst im Aufbau begriffenen<br />
Forstbehörden ermuntern sie<br />
dazu. Lasst uns wenigstens noch etwas<br />
aus dem Holz machen, bevor alles<br />
verlorengeht. Undmit dieser Rettungsmission<br />
bringen die Männer<br />
jeden Baum um, der vielleicht das<br />
Geheimnis des Widerstands in sich<br />
getragen hätte.“<br />
Ein fatales kulturelles Missverständnis<br />
wie zu Zeiten der Eroberung<br />
Mittelamerikas: Anfang des 16.<br />
Jahrhunderts brachten die Azteken<br />
den für Göttern gehaltenen Leuten<br />
von Hernan Cortés Geschenke, als<br />
sieander Ostküste des heutigen Mexikos<br />
anlandeten. Die Gaben waren<br />
dazu gedacht, ihnen zu huldigen<br />
und sie zufriedenzustellen und zum<br />
friedlichen Gehen zu bewegen<br />
(schließlich dient man Göttern lieber<br />
aus der Ferne). Die Geschenke<br />
aber entfachten deren Gier erst<br />
recht.<br />
Am Anfang der Waldausstellung,<br />
direkt beim Forsthaus befindet sich<br />
Yoko Onos„WishTree“, eine Idee aus<br />
den Achtzigern. Zettelchen an Fäden<br />
liegen bereit, die man mit Wünschen<br />
beschreiben und an eine Linde hängen<br />
soll. Man kann den Bäumen<br />
seine Wünsche natürlich auch direkt<br />
zuflüstern. Wasnicht heißt, dass sie<br />
dann in Erfüllung gehen. Aber diese<br />
Gewissheit hätte man bei Yoko Ono<br />
auch nicht.<br />
PetraKohse will zu Weihnachten<br />
dieses Jahr einen<br />
Waldbaum schmücken.<br />
Ewig stellte sich die Frage,warum<br />
ein Tournee-Zelt wie der Cirque<br />
du Soleil einem festen Haus wie dem<br />
Friedrichstadt-Palast stets den Rang<br />
ablief –inStil, Raffinesse,Originalität<br />
und Klasse. Wir sind ein Revue-<br />
Theater, hieß es dann, ganz was anderes.<br />
Unsinn. Dieses Haus lieferte<br />
am Donnerstag eine Premiereab, bei<br />
der das Publikum immer wieder begeistert<br />
von den Sitzen sprang, und<br />
setzt nach 99 Jahren zu einem Quantensprung<br />
an. Es kapert mit einem<br />
Schlag Stil, Raffinesse, Originalität<br />
und Ästhetik des Cirque du Soleil,<br />
stellt sein einmaliges Showballett<br />
dazu und schafft so eine eigene<br />
große Wunderkammer. Der Erfolg<br />
gebührtallen, zuerst der Regisseurin<br />
Krista Monson aus Las Vegas.<br />
Der Abend fängt ganz langsam<br />
an, wolkig und grau, mit metallischen<br />
Technoklängen, um dann dermaßen<br />
an Schwung und Feuer zu gewinnen,<br />
dass man mit seinen zwei<br />
Augen nicht die Hälfte des Geschehens<br />
erfassen kann. Die Überwältigung,<br />
die „Vivid“ im Friedrichstadt-<br />
Palast mit 100 Künstlern auf der<br />
Bühne in jedem Bild auslotet, muss<br />
man erst mal hinbekommen auf einer<br />
fußballfeldgroßen Bühne und<br />
Achten Sie auf die wehenden Hutkreationen!<br />
„Vivid“ an der Friedrichstraße DPA<br />
bei einem Publikum, das an Blockbuster-Szenarien<br />
im Kino gewöhnt<br />
ist. Aber es funktioniert, denn alles<br />
passiert live. Früher war man<br />
manchmal dankbar, wenn das<br />
Schlussbild nahte. „Vivid“ dagegen<br />
hat Strahlkraft im Ganzen wie Perfektion<br />
im Detail. An den acht Flügeln<br />
desmeterhohen Schmetterlings<br />
kann man sich nicht satt sehen, auch<br />
nicht an den lässig auf Blumenstengeln<br />
turnenden Salamandern, den<br />
Blütenröcken der Spitzentänzerinnen.<br />
Und dahaben wir noch nicht<br />
die wehenden Kreationen des Hutmachers<br />
Philipp Treacy gerühmt, der<br />
mit Stefano Canulli für die Kostüme<br />
steht – zwischen Ganzkörpergrau<br />
und Lack-und-Leder-Sexyness inszenieren<br />
sie volle Farbenpracht. Alles<br />
leuchtet, auch die Bühne.Und die<br />
Girlreihe mit ihren wagenradgroßen<br />
Heiligenscheinen tanzt Bilder wie<br />
voneinem anderen Stern.<br />
Die Story will das Leben feiern,<br />
handelt von einer Außenseiterin.<br />
Von R’Eye, halb Mensch, halb Maschine,<br />
die ihr Androiden-Dasein<br />
satt hat und sich auf die Suchemacht<br />
nach –naklar –sich selbst und der<br />
Freiheit. Die schillert imDschungel,<br />
im Nachtgarten, dem Puff und der<br />
abgründigen Hölle,zieht den Schauwert<br />
auch aus wüsten Gegensätzen.<br />
R’Eye trifft tollkühne Artisten, folgt<br />
einem Entertainer und einem Glamour-Girl<br />
–alle Sänger von hoher<br />
Souveränität. Selbst musikalisch<br />
trumpft die Show auf, die eingängige<br />
Titelmelodie „Extavaganza“ geht mit<br />
auf den Heimweg. Die Tänzer –vor<br />
allem die Männer –waren nie so in<br />
Form, jede Choreografie hat Klasse.<br />
Wernicht weiß, ob ihm die Tanz-Revue<br />
cool genug ist in ihrer universellen<br />
Eignung für Familie, Touristen<br />
und Regenbogen-Community,<br />
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Dortruftauch der Trailer:Bloß nicht<br />
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