15.10.2018 Aufrufe

Berliner Zeitung 13./14.10.2018

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 239 · 1 3./14. Oktober 2018 3 *<br />

·························································································································································································································································································<br />

Report<br />

Waskönnen wir vom Osten lernen?<br />

WieGleichberechtigung funktionieren kann, zum Beispiel.<br />

In der DDR lebten und liebten Frauen viel früher viel freier<br />

und emanzipierter als Frauen im Westen.<br />

Wiewar das damals? Und was ist davon geblieben?<br />

VonRegine Sylvester<br />

waren fast gleichauf. Dann kam wieder<br />

eine Weile nichts. Die trägsten,<br />

die spätesten waren die westdeutschen<br />

Männer. Sie hatten am ehesten<br />

Berührungs-, Versagens- und<br />

Prestigeängste. Das hat sich aber inzwischen<br />

angeglichen.“ Professor<br />

Starke sagt auch, dass sich die Menschen<br />

heutzutage trennen, wenn<br />

die Liebe vergeht, und er fährt fort:<br />

„Das ist ein großer zivilisatorischer<br />

Fortschritt.“<br />

In den Dimensionen der Menschheitsgeschichte<br />

mag das so sein, aber<br />

der einzelne kleine Mensch, gerade<br />

im Liebeskummerklumpen eingefroren,<br />

der verzweifelt –ohne einen einzigen<br />

Gedanken an Zivilisation und<br />

Fortschritt. Meistens wird man ja<br />

nicht einfach so verlassen. Auch Teilgeständnisse<br />

verschlimmern die<br />

Lage.Esgibt diesenWitz. EinEhepaar<br />

liegt im Bett, die Frau fragt in die Stille:<br />

„Woran denkst du?“ Und der Mann<br />

antwortet:„Kennst du nicht.“<br />

Die DDR machte eine frauenfreundliche<br />

Sozialpolitik, sie<br />

musste das auch tun: Frauen waren<br />

zu 90 Prozent berufstätig, ihre Arbeit<br />

wurde gebraucht. Die Betreuung<br />

der Kinder wie Krippe, Kindergarten,<br />

Schulspeise, Ferienlager<br />

kostete wenig Geld. Die Pille –in<br />

der DDR hieß sie zuerst „Wunschkindpille“<br />

und nicht „Antibabypille“<br />

wie im Westen –kostete gar<br />

nichts. Der monatliche Haushaltstag<br />

wurde voll bezahlt. Frauen bestimmten<br />

über ihre Berufstätigkeit<br />

und ihr in die Ehe eingebrachtesVermögen.<br />

Sie waren, anders als bis<br />

1977 in der Bundesrepublik, nicht<br />

zur Führung des Haushalts verpflichtet.<br />

Ostfrauen erlebten Anerkennung<br />

auch außerhalb ihrer Familien.<br />

Dasbringt mehr Selbstbewusstsein.<br />

Wenn ich über Frauen von damals<br />

im Osten schreibe, falle ich ins<br />

„Wir“, ohne nachzudenken.<br />

Wirwaren emanzipiert, ohne viel<br />

darüber zu reden. Diese Haltung<br />

spiegelte sich im Film und in der Literatur,<br />

auch in der Fernsehdramatik.<br />

Oft spielten Frauen große Rollen.<br />

Hier nur wenige Beispiele:„Der<br />

geteilte Himmel“, „Die besten<br />

Jahre“, „Das Kaninchen bin ich“,<br />

„Der Dritte“, „Bis dass der Todeuch<br />

scheidet“, „Rotfuchs“, „Die Legende<br />

von Paul und Paula“, „Das<br />

Versteck“, „Unser kurzes Leben“,<br />

„Solo Sunny“.<br />

Die Ähnlichkeit der Frauenrollen<br />

besteht in der Suche nach Liebe<br />

ohne Kompromisse. Ganz sein, intakt<br />

sein, lieben und geliebt werden.<br />

Eingutes Ende war nicht sicher.<br />

Ohne Selbstmitleid<br />

Christa Wolf, Brigitte Reimann, Sarah<br />

Kirsch, Helga Königsdorf, Irmtraut<br />

Morgner oder Helga Schütz schrieben<br />

aus dieser PerspektiveihreBücher.Die<br />

sozialistische Gesellschaftsordnung<br />

setzte Rahmen und Grenzen, aber das<br />

reichte nicht zum Glück.<br />

Maxie Wanders berühmtes Buch<br />

„Guten Morgen, du Schöne. Protokolle<br />

nach Tonband“ erschien 1977<br />

in der DDR, ein Jahr später in der<br />

Bundesrepublik. Sie hatte Gespräche<br />

mit neunzehn ganz verschiedenen<br />

Frauen geführt. Man sollte das<br />

Buch wieder lesen. DieAutorin führt<br />

durch einen weiblichen Kosmos.Wie<br />

interessant die alle waren, aufrührerisch<br />

und schonungslos und ohne<br />

Selbstmitleid.<br />

Maxie Wander ist bald nach Erscheinen<br />

des Buches mit 44 Jahren an<br />

Krebs gestorben. Sie hatte eine Fortsetzung<br />

der Gespräche geplant –mit<br />

Männern. Da hätte ich vielleicht einen<br />

männlichen Kosmos entdeckt. Man<br />

redete in der DDR immerzu über<br />

„Das Frauenbild“, über das man sich<br />

verständigen müsse. „Das Männerbild“<br />

ist kein Thema geworden.<br />

Als ab Mitte November 2017 die<br />

MeToo-Debatte begann, habe ich<br />

auf Frauen gewartet, die sich anschlossen<br />

und sexuelle Übergriffe in<br />

der DDR meldeten – weil Männer<br />

ihre Macht ausgespielt hatten, so<br />

ähnlich wie Harvey Weinstein, der<br />

amerikanische Filmproduzent. Aber<br />

da waren keine Opfer aus dem Osten<br />

in den Medien, da war auch keiner<br />

wie Weinstein.<br />

Im Umfeld des Generaldirektors<br />

der Defa, Hans Dieter Mäde, ist eine<br />

Besetzungscouch nicht vorstellbar,<br />

auch nicht bei Regisseuren oder Autoren.<br />

Man hätte –ich glaube das<br />

wirklich –keine Schauspielerin mit<br />

einem Rollenangebot erpressen<br />

können. Frauen hatten auch in anderen<br />

Arbeitsbereichen ihren Stolz.<br />

Die Wahl für die Liebe war frei auf<br />

beiden Seiten.<br />

Regine Sylvester bewundertalle<br />

Paare, die niemals<br />

aufhören, sich zu lieben.<br />

Brautpaar in Telefonzellen, 1984.<br />

Solidarität beim Abwasch, 1974.<br />

IMGAO<br />

IMAGO<br />

Die DDR brachte eine selbstbewusste Frauengeneration hervor.<br />

Und bis heute gibt es im Osten weniger Gehaltsunterschiede zwischen<br />

Männern und Frauen und mehr weibliche Chefs. Woran liegt das?<br />

VonSabine Rennefanz<br />

wundert an. Als sie das vier Monate<br />

alte Baby auf den Schreibtisch legte<br />

und einen Antrag aus der Tasche zog,<br />

ging er selbstverständlich davon aus,<br />

dass sie ihr Urlaubssemester verlängernwollte.„Es<br />

war für den Beamten<br />

aus dem Westen undenkbar, dass<br />

eine Mutter mit zwei kleinen Kindern<br />

ein Studium beginnen würde.“ Ein<br />

Kulturschock, für beide Seiten.<br />

Ingrid Miethe hat in ihrem Bereich,<br />

der Pädagogik, interessante<br />

Zahlen zusammengetragen. In der<br />

DDR waren im Jahr 1970 mehr als 40<br />

Prozent aller Hochschulabsolventen<br />

weiblich, in der BRD nur rund 30<br />

Prozent. Im Jahr 1989 waren es dann<br />

im Osten knapp über die Hälfte, im<br />

Westen noch unter 40 Prozent. Im<br />

wiedervereinigten Land ist dieser<br />

Spitzenwert erst zwanzig Jahre später<br />

wieder erreicht worden. Bei den<br />

Promotionen und Habilitationen ist<br />

es genauso: Erst jetzt sind die Zahlen<br />

so hoch wie in der DDR bereits1989.<br />

Aus Miethes Sicht kann man die<br />

DDR bei der Gleichberechtigung<br />

eher mit skandinavischen Ländern<br />

vergleichen. DasLand hat nach 1945<br />

ein positives Bild von der berufstätigen<br />

Mutter entwickelt. Im Westen<br />

habe der NS-Mutterkult nachgewirkt.<br />

Bis indie Achtziger wurde der<br />

Erziehungsratgeber der Nazi-Ikone<br />

Johanna Haarer „Die Mutter und ihr<br />

erstes Kind“ verkauft. Die inGießen<br />

lehrende Ingrid Miethe stellt fest,<br />

dass sich auch in Westdeutschland<br />

viel geändert habe, esgebe in der<br />

Wissenschaft mehr junge Frauen mit<br />

Kindern.„DerWesten hatte hinsichtlich<br />

der Berufstätigkeit von Müttern<br />

innerhalb Europas eher eine Sonderrolle.<br />

Das gleicht sich langsam an“,<br />

sagt sie.<br />

Bis heute existieren die Unterschiede<br />

weiter: Der Anteil von<br />

Frauen in Spitzenjobs ist im Osten<br />

Deutschlands mit 29 Prozent höher<br />

als im Westen (24 Prozent), in der<br />

Verwaltung ist im Osten fast schon<br />

Parität erreicht. Bei den Gehaltsunterschieden<br />

zwischen Männern und<br />

Frauen –Gender Pay Gap lautet der<br />

Fachausdruck –sind die Differenzen<br />

zwischen Ost und West so groß, als<br />

handele es sich um zwei verschiedene<br />

Länder. Der Gehaltsunterschied<br />

beträgt im Osten sieben Prozent,<br />

im Westen aber 22 Prozent<br />

(2017). Wenn man die getrennten<br />

Werte indas EU-Ranking eintragen<br />

würde, ergebe sich ein interessantes<br />

Bild: DerOsten wäreauf dem fünften<br />

Rang, der Westen auf dem drittschlechtesten.<br />

Warumsind die neuen Länder so<br />

viel besser als die alten, fragt die Publizistin<br />

Anke Domscheit-Berg. Als<br />

Gründe führtsie die geringe Teilzeitquote<br />

und bessere Abschlüsse an.<br />

„Vom Osten können wir lernen, wie<br />

man Gehaltsunterschiede verringert.“<br />

Mit 37Prozent arbeiten mehr<br />

Frauen als im EU-Schnitt Teilzeit,<br />

dabei gilt, dassWestfrauen dies meist<br />

freiwillig tun, Ostfrauen aber,weil sie<br />

keine Vollzeitstellen finden.<br />

Veranstaltungstipp: Katrin Rohnstock<br />

moderiertam16. 10. den Erzählsalon„Wirtschaft<br />

erzählt“, für den Wirtschaftsspezialisten zusammenkommen,<br />

um über ihre Erfahrungen mit verschiedenen<br />

Eigentumsformen zu berichten.<br />

Weitere Informationen: www.rohnstock-biografien.de/wirtschafterzaehlt<br />

Anmeldung:info@rohnstock-biografien.de<br />

Sabine Rennefanz<br />

war überrascht, wie groß<br />

die Unterschiede sind.<br />

Arbeiterin im VEB Schwermaschinenbau KarlLiebknecht in Magdeburg,1987.<br />

IMAGO/PEMAX

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!