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Berliner Zeitung 13./14.10.2018

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8 <strong>13.</strong>/14. OKTOBER 2018<br />

LYRIK<br />

VonBjörnHayer<br />

FOLKTRONICA<br />

VonJohannes Paetzold<br />

Wolkenlyrik<br />

Er gilt als der Star der Lyrik, als Guru des Augenblicks,als<br />

Säulenheiliger des feinen Stils:<br />

der Büchnerpreisträger JanWagner.Was seinen<br />

neuen Band „Die Live Butterfly Show“<br />

anbetrifft, fällt das Urteil allerdings etwas<br />

ambivalent aus. Wie erwartet, trifft man<br />

hierin auch auf die typischen Momentaufnahmen<br />

des Sprachsensibelchens – wenn<br />

sein lyrisches Ich etwa die auratische Präsenz<br />

eines Huskys oder den Flirt eines<br />

Schmetterlings mit einer Blüte beschreibt.<br />

Solcherlei Miniaturen lesen sich nett, mehr<br />

aber auch nicht. An Intensität gewinnt der<br />

Band hingegen durch jene Miniaturen, die<br />

sich durch eine starke Aussagekraft auszeichnen.<br />

Besonders das Poem „constable:<br />

wolkenstudien“ zeugt von der Wirkkraft<br />

der Lyrikansich: „kaum da, fast nichts“ sind<br />

die zarten„schemen“. Sieziehen einen in die<br />

Landschaft des John Constable (1776–1837)<br />

hinein, die sich bald schon als eine gemalte<br />

zu erkennen gibt: „und wieder greift er nach<br />

dem pinselschaft, /weil doch der nächste<br />

bogen weiß es schafft, /all das zu rahmen,<br />

was schon jetzt zerfällt, /indem die wolken<br />

stetig weiterziehen.“ Vergeht der Augenblick<br />

in der Gegenwart, so<br />

weiß ihn die Poesie zu<br />

verewigen. Wagner kann<br />

man nur empfehlen:<br />

Mehr von diesen starken<br />

Gedichten!<br />

Der Gott der Bienen<br />

JanWagner:<br />

Die Live ButterflyShow<br />

Hanser Berlin,<br />

Berlin 2018.<br />

104S., 18 Euro<br />

Kaum zu glauben, aber wahr: Esgibt noch<br />

Poesie, die von einem göttlichen Gegenüber<br />

spricht, ja, sich dem kosmischen Ganzen<br />

verschreibt. Hierzu zählt zweifelsohne Christian<br />

Lehnerts neuer Band „Cherubinischer<br />

Staub“. Als Ausgangspunkt dienen ihm vor<br />

allem Naturbeobachtungen. Flora und<br />

Fauna erscheinen nicht als das Unbekannte<br />

und Fremde, sondern als Raum der Geborgenheit:<br />

„Die letzte Ästelung, das Haar, das<br />

Wurzel-Wort. /Soheißt der Holderstrauch:<br />

mein eingehauchter Ort.“ Im Grünen sein,<br />

heißt hier,zuHause zu sein. Wasspüren wir<br />

genau, wenn wir uns der Natur hingeben?<br />

Das Gedicht „Mittag“, neben aphoristischen<br />

Zweizeilern einer der längeren Texte,<br />

gibt Aufschluss darüber: „Zwei Bienen<br />

schwirren wild […], /dort schaut ein Gottgebild<br />

aus ihrem Tanz zurück.“ Wir treffen<br />

auf Pantheismus in Reinform. Undwährend<br />

andere Poeten im Sogwasser des Digitalen<br />

fischen, reiht sich Lehnert injene Traditionslinie<br />

von Hölderlin über George bis Celan<br />

ein, die Bertolt Brecht einst mit dem Attribut<br />

„pontifikal“ versah. Gemeint sind<br />

Dichter als Propheten und Priester.Lehnerts<br />

unverstelltes Pathos und visionäre<br />

Weitsicht sind in Zeiten<br />

kulturkritischen Zynismus<br />

zur Seltenheit geworden<br />

und daher umso<br />

wertvoller.<br />

Christian Lehnert:<br />

Cherubinischer Staub<br />

Suhrkamp,<br />

Berlin 2018.<br />

112 S.,20Euro<br />

Die sich in der Mitte wähnen, legen gernfest, wo der Rand ist: Flüchtlingslager an der Grenze von Mazedonien und Griechenland.<br />

Gegen die Krankheit der Welt<br />

In „Die letzte Grenze“ holt Kapka Kassabova die Menschen von den Rändern ins Zentrum<br />

Ein Satz in diesem Buch geht einem<br />

immer wieder durch den Sinn,<br />

während der Lektüre und weit darüber<br />

hinaus. Nicht nur, weil auch<br />

die Erzählerin ihn wiederholt, sondern weil<br />

irgendwie das ganze Werk darin steckt, dieses<br />

Werk,das so überreich ist an großen Sätzen,<br />

an Neuem und Wunderlichem, an<br />

Schönheit und Grauen, an Menschlichkeit<br />

und Unmenschlichkeit, Natur und Übernatürlichem,<br />

Vergangenheit und Heute. Esist<br />

ausgerechnet ein Grenzbeamter, der diesen<br />

Satz spricht, und das sagt viel über unsere<br />

Gegenwart: „Eines lernt man bei dieser Arbeit.<br />

Leute überleben Dinge, die man sich<br />

nicht vorstellen kann.“<br />

Wer hat das nicht schon mal gedacht,<br />

beim <strong>Zeitung</strong>lesen und vor Nachrichtenbildern,<br />

Schicksale konsumierend im Netz, im<br />

Gespräch, in Gedanken versunken über den<br />

Zustand der Welt und über all die, die ihre<br />

Welten verlassen müssen, umherirren zwischen<br />

den Grenzen und an sie stoßen. Kapka<br />

Kassabova spricht im Vorwort zuihrem ersten<br />

auf Deutsch erschienenen Buch von<br />

„harten“ und „weichen“ Grenzen. Sie werden<br />

seit einigen Jahren unaufhörlich härter,<br />

die Grenzen Europas und jene zwischen Europa<br />

und derWelt, die es draußen halten will,<br />

die Grenzen überall auf der Welt. Wegen dieser<br />

verzäunten Linien, diesem Negativ der<br />

Globalisierung, ist „Die letzte Grenze“, obwohl<br />

es so viel Historie nacherzählt, ein sehr<br />

gegenwärtiges Buch.<br />

Um von den vielen unvorstellbaren Leben<br />

zu erfahren, an denen wir bei der Lektüre<br />

teilhaben dürfen, auf dass wir zumindest<br />

versuchen, sie uns vorzustellen, ist die<br />

in Schottland lebende Bulgarin dorthin gefahren,<br />

wo „ein halbes Jahrhundert Kalter-<br />

Krieg-Härte“ spürbar wird, „an die –heute<br />

weichere–Grenzezwischen Bulgarien, Griechenland<br />

und der Türkei“. Heute weicher?<br />

Das gilt freilich nicht für alle, denn, wie Kassabova<br />

schreibt: „Globale Bewegungen und<br />

VonBarbaraWeitzel<br />

Kapka Kassabova: Die letzte Grenze<br />

Am Rande Europas, in der Mitte der Welt.<br />

Ausd.Engl. v. Brigitte Hilzensauer.Zsolnay, Wien 2018.<br />

384 S.,26Euro<br />

globales Verbarrikadieren, neuer Internationalismus<br />

und alte Nationalismen –das ist die<br />

systemische Krankheit im Herzen unserer<br />

Welt, und sie hat sich von einer Peripherie<br />

zur anderen ausgebreitet; denn nirgendwo<br />

ist noch entlegen.“<br />

Wiewahr.Wir vergessen es nur.Wollen es<br />

vergessen. Undauch, wie alles mit allem zusammenhängt.<br />

Es ist faszinierend, wie Kassabova<br />

die kleinen Geschichten, die sie in<br />

den DörfernundWäldern, in den Städten, an<br />

den Grenzen, erfährt, mit der großen Geschichte<br />

verwebt. Indem sie genau zuhört.<br />

Das war der Grund für ihre Reise, sie wollte,<br />

schreibt sie,neueWörter lernen –und sehen.<br />

In Gesichter sehen. Denn: „Die Geschichte<br />

werdevor allem vonden Siegerngeschrieben,<br />

heißt es, mir aber scheint, dass Geschichte<br />

vor allem von denen geschrieben wird, die<br />

nicht dortwaren, was dasselbe sein mag.“<br />

Wasfür ein Geschenk, dass hier nun eine<br />

schreibt, die dort war, und was für ein zweites,<br />

dass Brigitte Hilzensauer das Geschriebene<br />

in ein so farbensattes, mal verspieltes,<br />

mal messerscharfes Deutsch übertragen hat.<br />

Diedunkle Magie derWälder,die trügerische<br />

Leere entlang der Zäune, die bescheidene<br />

Freundlichkeit der Dörfer, die Risse in den<br />

Städten und Biografien –all das sieht man<br />

dank der Sprachkunst beider Autorinnen<br />

förmlich vorsich und spürtzugleich das Ringen<br />

um das richtige Wort,den Klang der Gegend,<br />

den Ausdruck für Unvorstellbares.<br />

Das Ringen hat sich gelohnt, und so sitzt<br />

man mit Kassabova vor Dorfkneipen, streift<br />

durch das dunkle Grün des Strandscha-Gebirges,<br />

lernt Mönche, Schäfer, Aussteiger,<br />

Einsame und Liebende, Fliehende und<br />

Fluchtverhinderer, zur Flucht gezwungene<br />

und Rückkehrer kennen, lieben und, ja, auch<br />

verachten. Lauscht Mythen, Märchen und<br />

Sagen. Lernt ein wenig Bulgarisch, Türkisch<br />

und Griechisch, und all die Mischformen,<br />

die geboren werden in einer Welt der Grenzen.<br />

Weil Sprache sich nicht aufhalten lässt<br />

durch Zäune. Weil Menschen aufbegehren,<br />

gegen Umsiedlung, Umerziehung, Umformung.<br />

Kassabova und Hilzensauer geben ihnen<br />

Stimmen.<br />

„Am Rande Europas, in der Mitte der<br />

Welt“ lautet der Untertitel dieses Buches. In<br />

ihm steckt die ganze diskursive Wucht solcher<br />

Lektüre. Denn nicht nur die Geschichte<br />

einer Weltgegend schreiben viel zu oft jene,<br />

die nicht dort waren. Kapka Kassabova<br />

macht uns klar,dass sie auch viel zu oft festlegen,<br />

wo der Rand ist. Weil sie sich in der<br />

Mitte wähnen. „Die letzte Grenze“ erinnert<br />

auf jeder Seite daran, wie erhellend –und<br />

lustvoll! –essein kann, die Perspektive zu<br />

wechseln. Die Erde als Kugel ohne Zentrum<br />

zu sehen. Plötzlich kann man sich nämlich<br />

dann sehr viel vorstellen. Und das ist wohl<br />

die einzige Medizin gegen die systemischen<br />

Krankheiten unserer Zeit.<br />

DPA<br />

Reinträumen, Rausträumen<br />

Folktronica -die englische Band Tunng hat<br />

diesen Begriff Mitte der Nullerjahre für sich<br />

in Anspruch genommen und geprägt, mit ihremMix<br />

aus elektronischen Sounds,der Storytelling-Kraft<br />

britischer Folksongs,begleitet<br />

vonakustischen Gitarren. Mitdiesem Album<br />

kehrt die Band nach langer Pause in ihrer<br />

Originalbesetzung mit den GründungsmitgliedernSam<br />

Genders und Mike Lindsay zurück.<br />

Tunng klingen auf diesem Album einzigartiger<br />

denn je. Dunkle Stimmen, spärliche<br />

Arrangements –traumhafte Lieder. So<br />

beginnt dieses Album auch mit „Dream In“<br />

und endet mit „Dream Out“. Sam Genders<br />

klare, fragile Stimme, mit all ihrer rockgeschichtlichen<br />

Britishness, singt: „These are<br />

the strangest worlds we are in, and though<br />

we feel like giving in, it’s abeautiful dream!“<br />

Worte wie aus dem Epitaph eines Planeten,<br />

unerhört sanft, weich, gefühlsexplosiv trotz<br />

spärlicher Narration und nie kitschig. In<br />

„Flatlands“ sind die elektronischen Anklänge<br />

stärker,inanderen Songs,wie„Crow“,<br />

schweben Tunng ganz auf der Kraft des Folk-<br />

Songs daher.Esist so verdammt leicht, ihnen<br />

zu verfallen, sich mit der Wolke in diese<br />

Sphären entführen zu lassen.<br />

Da sind Anklänge an die Beatles,andie britische<br />

Folk-Szene der 60er und 70er. Aber vor<br />

allem klingen<br />

Tunng immer nach<br />

sich selbst – betörend,<br />

britisch, folky<br />

–simply awesome.<br />

Geh raus, fühl die Sonne<br />

Tunng:<br />

SongsYou MakeatNight<br />

Full Time Hobby<br />

Caoilfhionn, ein Vorname direkt aus dem<br />

„Herrn der Ringe“, aber netterweise leichter<br />

auszusprechen: Kielin. Genauso sphärisch<br />

wie ihr gälisch irischer Name sind auch die<br />

Lieder auf dem Debütalbum der jungen Musikerin<br />

aus Manchester.Awaken beginnt mit<br />

dem Titelsong und einem schleppenden<br />

Beat, dazu schwebt Roses Stimme irgendwo<br />

aus dem Nirvana der Traumhaftigkeit vorbei.<br />

Im Video spaziert sie durch Wälder und<br />

schaut von nordenglischen Berghöhen ins<br />

Land, die Farben psychedelisch verblendet.<br />

Hippieesk, sicher, gleichzeitig eine schöne<br />

Schnittstelle vonFolk, Psychedelia und Elektronik.<br />

Siehat sich nach langer Krankheit im<br />

Teeniealter ans Klavier gesetzt, in ihrer DNA<br />

steckt der Vater, ein eingefleischter Jazzbo,<br />

die Mutter ist Folk-Fan. Dazu kommt Manchester,<br />

wosich schon immer auch Elektronik<br />

und Folk trafen. Ihre DNA wirdnoch weiter<br />

zurückgeführt, wenn Roses Großmutter<br />

in „Wild Anemones“ als Sprechstimme auftaucht.<br />

Siesingt vonAnemonen, dem Nachthimmel<br />

und fordert uns auf: „Feel the sunshine,<br />

sogooutside, awaken to the world,<br />

you can hear all new sounds.“ Werdie britischen<br />

Folkhippies vonPentangle vondamals<br />

verpasst hat: Es kommt alles wieder, war nie<br />

verloren. Heute spaziert man eben mit einem<br />

Smartphone<br />

und Kopfhörer<br />

durch Caolifhionn<br />

Roses psychedelische<br />

Wälder.<br />

CaoilfhionnRose:<br />

Awaken<br />

Gondwana Records<br />

OL

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