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Berliner Zeitung 08.11.2018

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22 * <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 261 · D onnerstag, 8. November 2018<br />

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Feuilleton<br />

Manchmal hört man<br />

die Blätter im Walde sprechen<br />

Vor200 Jahren wurde der poetische Realist und atemberaubende Erzähler Iwan Turgenjew geboren<br />

Vladimir Nabokov war kein<br />

Fanvon ihm. Zu sehr störten<br />

den vorder Oktoberrevolution<br />

Geflohenen, der<br />

im Westen gern mit adliger Attitüde<br />

auftrat, Turgenjews soziale Haltung,<br />

seine legendäre Mitmenschlichkeit.<br />

Die hielt der Schöpfer der „Lolita“,<br />

zumindest in der Literatur,für sentimental.<br />

Schön schreiben aber, das<br />

musste Nabokovinseinen Vorlesungen<br />

über die russische Literatur eingestehen,<br />

das konnte Turgenjew.<br />

„Plastisch und musikalisch“ sei seine<br />

Prosa, wie mit Honig und Öl zu Papier<br />

gebracht flössen die Sätze, „geschmeidig,<br />

starkund prunkvoll“.<br />

Iwan Turgenjew schrieb atemberaubend<br />

schön über die Natur, über<br />

Liebe und Vergänglichkeit, ohne dabei<br />

die soziale Frage und den Humanismus<br />

außen vorzulassen. DasEtikett<br />

„poetischer Realismus“, das<br />

man ihm verliehen hat, stimmt voll<br />

und ganz. Vor200 Jahren in Orjol in<br />

Zentralrussland geboren und 1883<br />

bei Paris gestorben, entstammte<br />

Turgenjew einem alten Adelsgeschlecht<br />

– und war einer der entschiedensten<br />

Gegner der Leibeigenschaft.<br />

Nach dem Todder despotischen<br />

Mutter erließ Turgenjew den<br />

rund 5000 Bauernseines Guts Spasskoje-Lutowinowo<br />

zunächst die<br />

Hälfte des Zinses, gab ihnen später<br />

die Freiheit und setzte sich nach der<br />

offiziellen Aufhebung der Leibeigenschaft<br />

1861 weiter für sie ein.<br />

Turgenjew, der mit Tolstoj und<br />

Dostojewski das Triumvirat des russischen<br />

Realismus bildet, ist heute<br />

wohl der am wenigsten Gelesene der<br />

drei. Zu Unrecht, wie ich meine.Das<br />

hat einerseits damit zu tun, dass<br />

Dostojewski („Schuld und Sühne“,<br />

„Der Idiot“, „Die Brüder Karamasow“)<br />

und Tolstoj („Krieg und Frieden“,<br />

„Anna Karenina“) spektakuläre<br />

Großromane hinterlassen haben,<br />

während Turgenjew zwar auch<br />

Romane schrieb, vor allem aber als<br />

Meister der Novelle und der Erzählung<br />

bekannt ist.<br />

Andererseits nimmt Turgenjew,<br />

hierin der Modernste der drei Klassiker,seine<br />

Leser nie an die Kette.Wollen<br />

Tolstoj und Dostojewski immer<br />

auch moralisch belehren oder missionieren,<br />

hat Turgenjew nicht nur<br />

ein undogmatisches Menschenbild,<br />

sondern schreibt offene Texte. Religion<br />

war nie sein Thema. Ob wir den<br />

klugen, dünkellosen Revolutionär<br />

favorisieren, der vor der Liebe kapituliert;<br />

seinen alternden Gegenspieler,<br />

einen melancholisch resignierten<br />

Gentleman, oder die junge Frau,<br />

die sich nicht beirren lässt und alles<br />

gelassen interessiert beobachtet –<br />

wie wir also Turgenjews Figuren beurteilen,<br />

überlässt er uns.Nicht jeder<br />

Leser mag diese Freiheit.<br />

Turgenjew war auch der internationalste<br />

russische Autor. Er studierte<br />

in jungen Jahren in Berlin, ab<br />

1855 lebte er mit kurzen Unterbrechungen<br />

bis zu seinem TodimAusland,<br />

vor allem in Deutschland und<br />

Frankreich, wohin er Pauline Viardot-Garcia<br />

folgte, der berühmtesten<br />

Sängerin ihrer Zeit, mit der Turgenjew<br />

samt ihrem Ehemann in einer<br />

Art Ménage àtrois lebte und selbst<br />

nie heiratete.Erpflegte enge Freundschaften<br />

zu Gustave Flaubert,<br />

George Sand, Henry James oder<br />

Theodor Storm. Perfekt Französisch<br />

und Deutsch sprechend, übersetzte<br />

er in und aus beiden Sprachen. Turgenjew<br />

war Mittelsmann des europäischen<br />

Realismus, vernetzte Menschen<br />

und Nationen, ein multikultureller<br />

Autor durch und durch, wie<br />

sich auch in vielen seiner Texte zeigt.<br />

Funkelndes Zentrum des Turgenjew’schen<br />

Werks sind die „Aufzeichnungen<br />

eines Jägers“, eine Sammlung<br />

von Erzählungen, die von 1847<br />

bis 1852 zunächst einzeln in der Zeitschrift<br />

Sowremennik (Der Zeitgenosse)<br />

und dann gesammelt als<br />

Buch erschienen. Später kamen einige<br />

Texte dazu, darunter die göttliche,<br />

ketzerische, unfassbar traurige<br />

„Lebende Reliquie“ sowie „Es rasselt!“,<br />

eine ultraspannende Geschichte<br />

über die nächtliche Kutschfahrtdes<br />

Erzählers unter vermeintlichen<br />

Raubmördern. Hemingway hat<br />

sich an dieser Erzählung geschult und<br />

gleich noch einen Wunsch geäußert:<br />

VonMathias Schnitzler<br />

Naturliebhaber und Menschenfreund: Iwan Turgenjew(1818–1883)<br />

AKG IMAGES<br />

Hätte Turgenjew doch nur Tolstojs<br />

„Krieg und Frieden“ überarbeitet!<br />

Insgesamt bilden die „Aufzeichnungen<br />

eines Jägers“ einen Zyklus<br />

aus 25 Texten, die zusammengehalten<br />

werden durch ihren Aufbau und<br />

den Ich-Erzähler, ein Alter Ego Turgenjews.<br />

Tierfreunde müssen übrigens<br />

keine Sorgehaben, es wirdkaum<br />

geschossen im Buch, und wenn ja,<br />

gibt es auch kritische Stimmen zur<br />

Jagd. DieNatur wirdrespektiert, innig<br />

geliebt und in unterschiedlichsten<br />

Farben und Stimmungen besungen;<br />

manchmal hört man die Blätter im<br />

Walde sprechen. Der geniale Kunstgriff<br />

ist aber folgender: Der Jäger/Erzähler<br />

pirscht sich nicht primär an<br />

Fasane und Schnepfen heran, sondernandie<br />

Menschen des ländlichen<br />

Mittelrusslands, Turgenjews Heimat.<br />

Das aber sind, das erste Mal inder<br />

russischen Literatur nicht als dumpfe<br />

Nebenfiguren geschildert, leibeigene<br />

Bauern und Bäuerinnen, Waldarbeiter,<br />

Fischer, Pferdehütende Kinder<br />

mit eigenen Vorstellungen, Gefühlen,<br />

Träumen. Dazu porträtiert ermoralisch<br />

oft orientierungslose oder gewalttätige<br />

Gutsbesitzer sowie Kaufleute,Landärzte,Sektierer<br />

und Juden.<br />

Für Letztereübrigens setzte der Autor<br />

sich aktiv ein, als es in Russland zu Pogromen<br />

kam.<br />

Turgenjews Erzählungen wurden<br />

für aufwieglerisch gehalten und<br />

in einigen Passagen zensiert, in der<br />

Buchform machte der Autor vieles<br />

wieder rückgängig, stillschweigend.<br />

Bestraft wurde er trotzdem: ein Monat<br />

Haft und zwei JahreVerbannung<br />

auf sein Gut. DieLeserschaft war gespalten,<br />

entweder empört oder begeistert,<br />

kalt aber ließen diese Texte<br />

niemanden. Siesind zugleich federleicht,<br />

poetisch und von großer<br />

Tiefe, von sozialem Bewusstsein,<br />

doch auch bewusst idealisierend.<br />

Vera Bischitzky ist es erstmals gelungen,<br />

die ganze Größe und Vielschichtigkeit<br />

dieses Meisterwerks<br />

der russischen Literatur ins Deutsche<br />

zu transformieren.<br />

Unddadie legitime Nachfolgerin<br />

von Swetlana Geier gerade im Turgenjew-Rausch<br />

war (zuvor hatte Bischitzky,<br />

preisgekrönt, Gogols „Tote<br />

Seelen“ und den „Oblomow“ von<br />

Gontscharow neu übersetzt), hat sie<br />

die „Erste Liebe“ gleich auch neu<br />

übertragen, vielleicht Turgenjews<br />

vollkommenste unter seinen vielen<br />

betörenden Novellen. Ein 40-jähriger<br />

Mann erzählt im Rückblick von<br />

seiner ersten und einzigen Liebe, in<br />

einzigartiger Sprachkunst, wehmütig,<br />

tragisch und auf paradoxe Weise<br />

doch tröstlich den Moment höchsten<br />

Glücks und das Empfinden der<br />

Vergänglichkeit in eins fassend. Nervenzerreißend<br />

schön, der ideale Einstieg<br />

in Turgenjews Welt.<br />

In frühen Jahren Puschkins und<br />

Goethes Lyrikfolgend, schuf Turgenjew<br />

im Alter, beeinflusst von Baudelaire,<br />

gattungssprengende Prosagedichte.<br />

Zwei seiner immerhin sechs<br />

Romane möchte ich Ihnen zuletzt<br />

aber auch ans Herz legen.„Väter und<br />

Söhne“ (1862, russ. „Väter und Kinder“,<br />

denn die Frauen spielen bei<br />

Turgenjew immer eine mindestens<br />

gleichberechtigte, meist sogar die<br />

prächtigste Rolle) ist ein Buch, das<br />

von philosophischer Weite und großem<br />

Spaß getragen ist, eine Roadnovelmit<br />

Kutsche,ein Roman über den<br />

Widerstreit der Generationen, der<br />

den Begriff des Nihilismus in die Literatur<br />

einführte, ihn ernst nahm<br />

und zugleich ironisierte. Turgenjew<br />

machte sich damit in allen Lagern<br />

Feinde, bei Revolutionären, Liberalen<br />

und Konservativen.<br />

Wiederzuentdecken ist auch der<br />

herrlich böse Roman „Rauch“<br />

(1867), der unter Auslandsrussen in<br />

Baden-Baden spielt; ein fast postmodernes<br />

Buch, in dem das politsche,<br />

gesellschaftliche und nationalistische<br />

Gelaber der Figuren einem<br />

so die Sinne vernebelt, dass man sich<br />

im Berlin des Jahres 2018 wähnt.<br />

Iwan Turgenjew: Aufzeichnungen eines Jägers.<br />

Ausdem Russischenvon Vera Bischitzky.Hanser,<br />

München 2018. 640 S.,38Euro.<br />

Iwan Turgenjew: Erste Liebe. Ausdem Russischen<br />

vonVera Bischitzky.C.H.Beck, München<br />

2018. 110 S.,16Euro.<br />

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