Berliner Zeitung 08.11.2018
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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 261 · D onnerstag, 8. November 2018 – S eite 9 *<br />
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Berlin<br />
Lohnende Operationen:<br />
Kliniken als<br />
Geldmaschinen<br />
Seite 17<br />
Farbzeichen –Polizeibesuch bei Greenpeace Seite 10<br />
Geldsegen –Das Naturkundemuseum soll zur Weltspitze aufschließen Seite 12<br />
Stadtbild<br />
Wundersame<br />
Landluft<br />
Ruth Herzberg macht<br />
Urlaub vonder großen Stadt<br />
und ist immer nur müde.<br />
Wer Berlin am Wochenende<br />
Richtung Norden verlassen<br />
will, steht meistens im Stau. Nach<br />
unendlichen Stunden im Mietwagen<br />
ist man endlich im Häuschen der<br />
Freunde angekommen. Stolz zeigen<br />
sie den Garten, die Scheunen, die<br />
Schuppen, die Ställe,die Speisekammernund<br />
die Flaschen mit selbst gemachtem<br />
Pflaumenmost, mit den<br />
Walnüssen vom eigenen Baum, den<br />
Kompottgläsern, den getrockneten<br />
Pilzen. Ja wirklich, alles ganz toll. Sofort<br />
riesiger Hunger. Noch größer<br />
aber ist: die Müdigkeit. Kaum hat<br />
man das Gästebett gezeigt bekommen<br />
samt Daunenfederinletts und<br />
geblümter Bettwäsche vonOma, will<br />
man sich sofort dahineinlegen und<br />
das ganzeWochenende verschlafen.<br />
Das sei der Sauerstoffschock, erklärt<br />
der Gastgeber. Die frische<br />
Landluft. Die Landlebenreizüberflutung<br />
nach dem Stadtleben zwischen<br />
Abgasen, Autolärm, Supermarkt,<br />
Büround Stammkneipe.Inder Stadt<br />
ist man immer wach, auf dem Land<br />
immer müde.<br />
Mannimmt auf dem Land so vieles<br />
wahr, den Dunst auf den Äckern<br />
und das feuchte Laub auf der Wiese.<br />
Man hört die Motorsäge des Nachbarn,<br />
der ausgerechnet am Wochenende<br />
seinen Carport bauen muss,<br />
oder die Dorfjugend, die auf Mopeds<br />
um den Kiessee heizt.<br />
Aber man darf noch nicht schlafen.<br />
Erstmal spazieren gehen, den<br />
Ofen anheizen, Äpfel aufsammeln,<br />
die Pferde auf der Koppel streicheln,<br />
Abendessen kochen, das regionale<br />
Bier trinken –und dann ist es doch<br />
schon wieder so spät geworden und<br />
man wirft sich mit Brummschädel<br />
ins Gästebett. Nachts schläft man<br />
schlechter als gedacht, wegen zu viel<br />
Alkohol, und weil's kalt ist und zu<br />
dunkel und zu still im Zimmer.<br />
Am nächsten Morgen kommt<br />
man kaum aus den Federn, bekommt<br />
keinen ordentlichen Kaffee<br />
(auf dem Land gibt es keine Espresso-Siebträgermaschinen).<br />
Blass<br />
macht man sich nützlich, hackt<br />
Holz, zupft Rucola, hilft bei der Zucchiniernte,<br />
harkt Laub und fährt es<br />
mit der Schubkarre ans Ende des<br />
Gartens an die kaputte Stelle am<br />
Zaun. Man bewundert die Aussicht,<br />
die Landschaft, das neue Dach. Bekommt<br />
die reparaturbedürftigen<br />
Fenster gezeigt und das Baumaterial<br />
unter der Plane.Ja, es ist noch viel zu<br />
tun, und es ist trotzdem sehr schön.<br />
Nach dem Mittagessen muss ein<br />
kleines Schläfchen sein, dick eingemummelt<br />
auf der Gartenliege in der<br />
Sonne. Derweil geht der Gastgeber<br />
joggen, besucht die Nachbarn,<br />
schleift die alte DDR-Hollywoodschaukel<br />
mit Sandpapier ab, harkt<br />
noch mehr Laub von der Wiese,<br />
kocht noch mehr Kompott, baut<br />
neue Scharniereandie Schuppentür<br />
und sammelt noch mehr Walnüsse<br />
auf. Man erwacht, erhebt sich<br />
pflichtbewusst, bekommt noch einen<br />
Pulverkaffee,wäscht ab,fegt die<br />
Küche –und dann sitzt man auch<br />
schon wieder im Mietwagen auf dem<br />
Wegindie große Stadt. Steht im Stau,<br />
wirft sich zu Hause in die Wanne,<br />
schläft dortfast ein, fällt todmüde ins<br />
Bett und erwacht am Montagmorgen<br />
–erfrischt und ausgeruht in der<br />
geliebten Großstadt.<br />
Sichtbarer Protest gegen Rollkoffer-Touristen: In besondersbeliebten Gegenden wie Kreuzberg,Friedrichshain und Neukölln wollen Anwohner keine neuen Hotels mehr.<br />
Alle wollen nach Kreuzberg<br />
Zu viel Lärm, zu viele Hotels: Bezirksbürgermeisterin fordert Eindämmung des Tourismus<br />
VonStefan Strauß<br />
Kreuzberg, Skalitzer Straße,<br />
Ecke Mariannenstraße.<br />
SO 36. Seit den 70er-Jahren<br />
politisches Zentrum der<br />
Aufmüpfigen, der Hausbesetzer und<br />
Autonomen. Jahrelang stand an dieser<br />
Ecke ein Autohaus, eswurde geduldet,<br />
am 1. Mai dennoch immer<br />
mal wieder demoliert. Doch jetzt<br />
kommt es aus Sicht der Bewohner<br />
noch schlimmer. Bagger graben tiefe<br />
Löcher. Bauschilder fehlen, doch im<br />
Kiez wissen längst alle Bescheid: Ein<br />
Hotel und ein Hostel werden an der<br />
Ecke gebaut, wohl mehr als 200 Zimmer,<br />
Läden, Büros. Der Neubau wird<br />
hier vieles verändern, fürchten Kiezgruppen<br />
und Bezirkspolitiker –und<br />
protestieren.<br />
„Gerade Kreuzberg braucht definitiv<br />
kein neues Hotel“, sagt Magnus<br />
Hengge von der Nachbarschaftsinitiative<br />
Bizim Kiez. Baustadtrat Florian<br />
Schmidt (Grüne) betont, die Genehmigung<br />
stamme aus dem Jahr 2014.<br />
„So etwas würde heute nicht mehr<br />
genehmigt werden.“ UndBezirksbürgermeisterin<br />
Monika Herrmann<br />
(Grüne) fordert, Berlin brauche endlich<br />
einen stadtweiten Hotelentwicklungsplan,<br />
um Neubauten wie diesen<br />
an der Skalitzer Straße zu verhindern.<br />
„Wenn es in einem Kiez schon Hotels<br />
in einer gewissen Dichte gibt, muss es<br />
doch möglich sein, den Bau weiterer<br />
Hotels zu verwehren“, sagte sie der<br />
<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>.<br />
Die Bezirksbürgermeisterin plädiert<br />
für eine „flächendeckende Verteilung“<br />
von Hotelneubauten. In<br />
Steglitz-Zehlendorf gebe eszum Beispiel<br />
nur wenige Hotels,während sich<br />
in Friedrichshain und KreuzbergHotels<br />
und Hostels häufen.<br />
Vorallem junge Leute wollen während<br />
ihres Berlin-Besuchs genau dort<br />
wohnen, wo was los ist, wo die Kneipen,<br />
Bars und Clubs sind –also an der<br />
Warschauer Straße, amSchlesischen<br />
Tor, Kottbusser Tor, Görlitzer Park,an<br />
der Admiralbrücke –oder eben an der<br />
Skalitzer Straße, Ecke Mariannenstraße,<br />
einem der Einfallstore zur<br />
Oranienstraße. Monika Herrmann<br />
sagt, in diesen Gegenden häufen sich<br />
Skalitzer,EckeMariannenstraße: Das Autohaus ist weg, es kommt ein Hotel. BLZ/PONIZAK<br />
Zahl der Übernachtungen in Berlin<br />
gerundet in Millionen<br />
10,7<br />
’01<br />
17,3<br />
’07<br />
30,3 31,1 31,2<br />
22,3 24,9 28,7<br />
10,7 17,8<br />
’08<br />
’09<br />
’10<br />
’11<br />
’12<br />
’13<br />
’14<br />
’15 ’16 ’17<br />
BLZ/GALANTY; QUELLE: AMT FÜR STATISTIK<br />
Beschwerden der Anwohner wegen<br />
Lärm und Müll. Sie verweist auf den<br />
Koalitionsvertrag von SPD, Linker<br />
und Grünen. Dortsei so ein Entwicklungsplan<br />
festgeschrieben worden.<br />
Doch das Wort Plan taucht in der<br />
gemeinsamen Erledigungsliste des<br />
rot-rot-grünen Senats gar nicht auf.<br />
Im Kapitel zum stadtverträglichen<br />
Tourismus steht lediglich, dass für einen<br />
Interessenausgleich zwischen<br />
Anwohnern, Gewerbetreibenden<br />
und Besuchern auch bei der „Hotelentwicklung“<br />
zu sorgen sei. Und so<br />
stößt der Vorstoß von Monika Herrmann,<br />
Genehmigungen für Hotelneubauten<br />
künftig verwehrenzudürfen,<br />
aufWiderspruch.<br />
Ephraim Gothe(SPD), Stadtrat für<br />
Stadtentwicklung in Mitte, sagt, es sei<br />
schwierig, so einen Hotelentwicklungsplan<br />
für die gesamte Stadt aufzustellen,<br />
wenn es doch nur um einige<br />
wenige, besonders gefragte Gegenden<br />
in der Stadt gehe. „Ich kann<br />
aber jeden Anwohner verstehen, der<br />
genervt ist, wenn nachts eine Schulklasse<br />
mit 20 Rollkoffern durch die<br />
Straßen zieht.“ Gothe sagt, er habe<br />
auch schon einmal mit „viel Überredungskunst“<br />
einen Investor, der ein<br />
Hotel bauen wollte, von einer anderenNutzungsartüberzeugen<br />
können.<br />
Thomas Lengfelder, der Hauptgeschäftsführer<br />
des Deutschen Hotelund<br />
Gaststättenverbandes (Dehoga),<br />
hat sofort die Zahlen parat, um sich<br />
gegen so einen Hotelentwicklungsplan<br />
zu stellen. „Jedes neue Hotel<br />
bringt Werbung für die Stadt und Arbeitsplätze.<br />
Bereits in den 90er-Jahren<br />
habe die Hotelbranche gedacht,<br />
in Berlin sei die Kapazitätsgrenze für<br />
Hotels erreicht. „Wir haben uns<br />
IMAGO<br />
geirrt“, sagt Lengfelder.Esgibt immer<br />
mehr Hotels, mehr Touristen, mehr<br />
Übernachtungen. Im Jahr 2010 gab es<br />
500 Hotels in derStadt,2017 waren es<br />
37 mehr.Inden nächsten Jahren werden<br />
51weitere Hotels mit mehr als<br />
20 000 Betten öffnen, vor allem in<br />
Mitte,Friedrichshain, Kreuzbergund<br />
in der Flughafenkommune Schönefeld.<br />
„Gewerberecht und Baurecht regeln<br />
die Möglichkeiten für Hotelneubauten<br />
in der Stadt“, sagt Lengfelder.<br />
Es gebe immer noch genügend Bedarf.<br />
Zu Messen, Kongressen und an<br />
Feiertagen seien viele Hotels ausgebucht.<br />
Die durchschnittliche Auslastung<br />
liege bei rund 80 Prozent. Dassei<br />
bundesweit ein„sehr guterWert“.<br />
Besucherflut besser steuern<br />
Im vergangenen Jahr ist die Zahl der<br />
Touristen, die in <strong>Berliner</strong> Hotels übernachtet<br />
haben, erneut um fast zwei<br />
Prozent gestiegen. Es waren fast<br />
13 Millionen Gäste. Rund eine Viertelmillion<br />
mehr als im Jahr 2016.Wirtschaftssenatorin<br />
Ramona Pop<br />
(Grüne) will mit der <strong>Berliner</strong> TourismusgesellschaftVisit<br />
Berlin die wachsende<br />
Besucherflut besser steuern.<br />
Stadtverträglicher Tourismus heißt<br />
das Konzept. „Unser Ziel ist eine Entzerrung<br />
der Angebote und eine bessereVerteilung<br />
über die ganzeStadt“,<br />
sagte sie der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>. Dazu<br />
sei sie mit der Senatsverwaltung für<br />
Stadtentwicklung im Gespräch. Dort<br />
hieß es am Mittwoch auf Nachfrage,<br />
die Lage sei schwierig, es gebe „noch<br />
keine greifbaren Ergebnisse“.<br />
Stadtrat Florian Schmidt sagt, im<br />
Senat gebe es keinen politischen Willen,<br />
einen Hotelentwicklungsplan<br />
aufzustellen, „doch wir brauchen ihn<br />
unbedingt“. Er schlägt vor, berlinweit<br />
eine Studie zu erstellen, dann könnte<br />
man für bestimmte Kieze eine Obergrenze<br />
festlegen. Monika Herrmann<br />
sagt: „Zum Konzept eines stadtverträglichen<br />
Tourismus gehörtauch die<br />
Planungneuer Hotels.“<br />
DerKiezander Skalitzer Straße,an<br />
der früher einmal das Autohaus<br />
stand, wird davon nicht mehr profitieren.<br />
Die Bagger sind da, der Komplex<br />
ausLäden undBüros wirdhochgezogen.<br />
Mitten in S0 36.<br />
Das Ende<br />
einer<br />
Stau-Behörde<br />
Verkehrslenkung Berlin<br />
wird aufgelöst<br />
VonGerhard Lehrke<br />
DieVerkehrslenkung Berlin (VLB)<br />
wirdaufgelöst und voraussichtlich<br />
bis Ende kommenden Jahres als<br />
Abteilung VI in die Senatsverkehrsverwaltung<br />
eingegliedert. Mit diesem<br />
Schritt will Senatorin Regine<br />
Günther (für Grüne) das seit Jahren<br />
herrschende Chaos in und um die<br />
Behörde beenden. Zuvor hatte ein<br />
Gutachten genau diese Neustrukturierung<br />
empfohlen. Eine Beibehaltung<br />
der jetzigen Organisation sei<br />
nicht ratsam.<br />
DieVLB mit knapp 130 Mitarbeitern<br />
ist unter anderem für die Ampel-Einrichtung<br />
und -Steuerung, die<br />
Verkehrsführung an Baustellen, die<br />
Einrichtung vonBusspuren oder Geschwindigkeitsbeschränkungen<br />
sowie<br />
die Beseitigung potenziell gefährlicher<br />
Stellen auf den Straßen<br />
verantwortlich. Diesen Aufgaben<br />
wurde die Behörde mit Sitz am Flughafen<br />
Tempelhof zuletzt jedoch immer<br />
weniger gerecht. Klagen häuften<br />
sich, dass die VLB Bauarbeiten teils<br />
um ein Jahr verzögerte. Dazu kam,<br />
dass die Behörde seit April 2018<br />
keine Führung mehr hat. Ihr letzter<br />
Leiter, Axel Koller, war nach einem<br />
guten halben Jahr zur BSR gewechselt.<br />
2015 war Jörg Lange entlassen<br />
worden, anschließend wurde der<br />
pensionierte Leiter der Stadtgüter,<br />
Peter Hecktor, kommissarisch an die<br />
Spitzegesetzt, bis Koller kam.<br />
Mit der Überführung der VLB in<br />
die Verwaltung soll die Zahl der<br />
Schnittstellen zwischen verschiedenen<br />
Verkehrslenkern verringert werden,<br />
sagte Günthers Sprecher Jan<br />
Thomsen der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>. Denn<br />
neben der VLB widmen sich Mitarbeiter<br />
der Senatsverwaltung und der<br />
Bezirkeähnlichen Aufgaben.<br />
DerGrünen-Verkehrsexperte Harald<br />
Moritz hofft, dass die Neustrukturierung<br />
dazu führt, die Vakanz an<br />
der Spitze der Verkehrslenkung zu<br />
beenden, wie er dem Tagesspiegel<br />
erklärte. Ein Abteilungsleiter in der<br />
Senatsverwaltung verdient mehr als<br />
der Leiter einer VLB als nachgeordnete<br />
Behörde. Nach dem Abgang<br />
Kollers war es nicht gelungen, die<br />
Stelle über eine Ausschreibung zu<br />
besetzen.<br />
Oliver Friederici, verkehrspolitischer<br />
Sprecher der CDU-Fraktion,<br />
hält die Maßnahme für überfällig.<br />
Angesichts eines „Versagens“ der<br />
Verkehrsverwaltung zum Beispiel<br />
beim Radwegeausbau sei aber nicht<br />
zu erwarten, dass sich die Verhältnisse<br />
verbesserten. Er schlägt vor, die<br />
Aufgaben der VLB auf die Verkehrsmanagementzentrale<br />
und die Bezirke<br />
umzuverteilen.<br />
Die VLB wurde für viele Staus in der Stadt<br />
verantwortlich gemacht.<br />
IMAGO