Society 361 / 2012
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tunesien<br />
interview<br />
Foto: SOCIETY/Schiffl<br />
die Reformbemühungen der neuen tunesischen<br />
Führung zeigt sich das tunesische<br />
Regierungsmitglied erfreut. „Wir müssen<br />
Maßnahmen gegen die Armut, Strukturreformen<br />
und den Aufbau der Zivilgesellschaft<br />
in Angriff nehmen.“ Dass Tunesien<br />
im Jänner Mitglied der EBRD (Europäische<br />
Bank für Wiederaufbau und Entwicklung)<br />
wurde, erfüllt die tunesische Regierung<br />
mit Genugtuung.<br />
•<br />
Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit<br />
Neben der Beruhigung ausländischer<br />
Firmen und potenzieller Investoren steht<br />
die Erfüllung sozialer Forderungen im eigenen<br />
Land auf der Prioritätenliste Tunesiens.<br />
Im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit,<br />
die ein Auslöser der Proteste im<br />
arabischen Raum war, würden Maßnahmen<br />
gesetzt wie Trainingsprogramme<br />
und Stipendien, aber auch Förderung der<br />
Klein- und Mittelbetriebe, erläutert Bettaieb.<br />
Ein Zuwachs internationaler Investitionen<br />
würde mehr Arbeitsplätze für qualifiziertes<br />
Personal bedeuten.<br />
Zur Bekämpfung der hohen Jugendarbeitslosigkeit<br />
hofft Tunesien auch auf das<br />
Engagement ausländischer Organisationen,<br />
die Trainingsprogramme und andere<br />
Aktivitäten anbieten. Nach den Worten<br />
Bettaiebs ist eine Task Force bemüht, sinnvolle<br />
Programme auszuarbeiten, die auch<br />
die Zivilgesellschaft berühren sowie die<br />
Probleme der Armut und der hohen Arbeitslosigkeit<br />
von Jungakademikern erfassen.<br />
„Strukturreformen sind notwendig.<br />
Wir legen großes Gewicht auf die Einrichtung<br />
von Mechanismen, um mehr Jobs zu<br />
schaffen.“<br />
Bettaieb und Zekri weisen darauf hin,<br />
dass bearbeitete Güter achtzig Prozent<br />
der tunesischen Exporte ausmachen. Im<br />
BNP betrage der Anteil dieses Sektors<br />
zwanzig Prozent, während auf den Tourismus<br />
sechs Prozent und auf die Landwirtschaft<br />
elf Prozent entfallen. Fast 300 deutsche<br />
Firmen und zwanzig österreichische<br />
Unternehmen sind aktiv. Wasser-, Abfallund<br />
Energietechnologie bieten Chancen<br />
für Investitionen.<br />
Zur Zusammenarbeit mit den arabischen<br />
Nachbarn findet der Investitionsstaatssekretär<br />
positive Worte. Mit Libyen<br />
habe die neue tunesische Führung gute<br />
Beziehungen hergestellt, ebenso zu Marokko<br />
und Algerien. „Ich bin sehr optimistisch.<br />
Es bestehen sehr gute Beziehungen<br />
zwischen den Geschäftsleuten. Es gibt<br />
eine Zusammenarbeit auf sozialer und<br />
wirtschaftlicher Ebene. Freilich, wir sind<br />
besorgt darüber, dass in Libyen viele Waffen<br />
im Umlauf sind.“ In Tunesien hoffe<br />
man, dass dieses Problem unter Kontrolle<br />
komme.<br />
•<br />
Moderate islamische<br />
Gesellschaft<br />
Eine Islamisierungsgefahr sieht Bettaieb,<br />
der selbst als parteiloser Experte<br />
in die Regierung eingetreten ist, nicht.<br />
„Die tunesische Gesellschaft ist islamisch,<br />
aber sehr, sehr moderat“, so der Staatssekretär.<br />
Bettaieb hebt auch den hohen<br />
Frauenanteil in der Verfassungsgebenden<br />
Nureddine Zekri (Behörde<br />
für Auslandsinvestitionen)<br />
Versammlung hervor. „Frauen spielen<br />
eine sehr wichtige Rolle nicht nur für die<br />
Emanzipation der Frauen. Sie sind es, die<br />
eine gemäßigte islamische Gesellschaft<br />
formen.“<br />
„Die erste freie Wahl in Tunesien ist<br />
transparent verlaufen, mit einem massiven<br />
Volksvotum.“ Jetzt regiere erstmals<br />
eine Koalition. Am 20. März 2013, genau<br />
am Tag der Unabhängigkeit, werde ein<br />
neues Parlament gewählt. Bettaieb unterstreicht<br />
den moderaten Charakter der<br />
islamischen Mehrheitspartei Ennahda.<br />
Diese habe in der Verfassungsgebenden<br />
Nationalversammlung der Scharia als<br />
Basis der neuen Verfassung eine Absage<br />
erteilt. Die islamische Gerichtsbarkeit soll<br />
in die neue Verfassung nicht Eingang finden.<br />
Staatssekretär Bettaieb macht klar,<br />
dass Tunesien am ersten Artikel der Verfassung<br />
von 1956 festhalten wird: „Tunesien<br />
ist ein freier Staat, unabhängig und<br />
souverän, seine Religion ist der Islam, seine<br />
Sprache Arabisch, und sein System die<br />
Republik.“ Damit will man sich von den<br />
radikalen Salafisten abgrenzen.<br />
•<br />
Österreich wird umworben<br />
Die tunesischen Regierungsvertreter<br />
sind erfreut über die Unterstützung, die<br />
seitens der österreichischen Politik dem<br />
politischen Umschwung in Tunesien entgegengebracht<br />
wird. Außenminister Michael<br />
Spindelegger (V) besuchte Tunis Mitte<br />
Mai. In Tunis hofft man auch auf eine<br />
Visite von Bundespräsident Heinz Fischer.<br />
Die „politischen Türöffner“ sollen einer<br />
künftigen Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen<br />
den Boden bereiten. Tunesien<br />
hat nach den Worten Bettaiebs, der<br />
als Experte für Technologietransfer und<br />
Wassertechnik im arabischen Raum gilt,<br />
„großes Interesse an österreichischer Umwelt-<br />
und Wassertechnologie, an sauberer<br />
Technologie“, aber auch am Verkehrssektor.<br />
Österreich biete auch Potenzial in der<br />
Sozial-, Frauen- und Umweltpolitik. Seinen<br />
ersten Österreich-Aufenthalt nutzte<br />
Bettaieb auch zu multilateralen Kontakten.<br />
Er stattete der UN-Organisation für<br />
Industrielle Entwicklung (UNIDO) und<br />
dem OPEC Fund (OFID) Besuche ab.<br />
Der polyglotte Minister hat in Tunis, in<br />
den USA und in Japan Physik, Öltechnologie<br />
und Wirtschaft studiert. Seine Expertise<br />
für Technologietransfer und Wassertechnologie<br />
brachte er bei Projekten und<br />
im universitären Bereich ein. So war er<br />
vor allem in der Golf-Region, in den Vereinigten<br />
Arabischen Emiraten und in Saudi-<br />
Arabien tätig.<br />
•<br />
<strong>Society</strong> 1_<strong>2012</strong> | 49