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Berliner Zeitung 17.01.2019

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 14 · D onnerstag, 17. Januar 2019 17<br />

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Wissenschaft<br />

Ist der Mensch das Maß aller Dinge –oder selbst ein Objekt, an dem gründlich Maß genommen wird?<br />

ISTOCKPHOTO<br />

Der vermessene Mensch<br />

Eine <strong>Berliner</strong> Akademie-Veranstaltung befasst sich mit der allgegenwärtigen Macht der Zahlen und Größen<br />

VonTorsten Harmsen<br />

Ein spannendes Thema steht<br />

am kommenden Sonnabend<br />

im Mittelpunkt einer<br />

Salon-Veranstaltung der<br />

Berlin-Brandenburgischen Akademie<br />

der Wissenschaften (BBAW). Es<br />

geht um „Maß und Messen“. Zunächst<br />

klingt das sicher etwas nach<br />

Physiklabor und TÜV,nach Leuten in<br />

Kitteln, die Zahlen vonGeräten ablesen.<br />

Aber wenn man genauer hinschaut,<br />

erkennt man: Wirleben in einer<br />

Zeit, in der nahezu alles vermessen<br />

wird: die Natur, die Beschaffenheit<br />

der Erde, das Weltall, die<br />

Gesellschaft, ja der Mensch selbst –<br />

mit seiner Sprache, seinem sozialen<br />

Leben, seiner Gesundheit, seinem<br />

Erbgut. Alles wirdinGrößen, Zahlen,<br />

Statistiken ausgedrückt.<br />

Nina Verheyen gehört zu den<br />

mehr als 150 Mitwirkenden des Salons<br />

Sophie Charlotte der BBAW. Die<br />

1975 geborene Autorin und Historikerin<br />

an der Universität zu Köln hat<br />

ein viel beachtetes Buch zum Thema<br />

„Die Erfindung der Leistung“ (Hanser<br />

Berlin, 2018) geschrieben. Sie wird<br />

darüber mit der Ethnologin Carola<br />

Lentz reden. Es geht dabei um etwas,<br />

das jeden in unserer Gesellschaft von<br />

Kindesbeinen an betrifft: das Leistungsdenken.<br />

Aber gab es nicht schon in der Antike<br />

sportliche Wettkämpfe? Wurde<br />

nicht auch der mittelalterliche Bau-<br />

Handwerker anhand seiner Tagesleistung<br />

gemessen? Nina Verheyen<br />

streitet dies gar nicht ab,aber sie sagt,<br />

dass sich im 19. Jahrhundert eine<br />

grundlegende Veränderung vollzogen<br />

habe. Verschiedene Entwicklungen<br />

hätten dazu geführt, dass die aus<br />

der Physik stammende Definition der<br />

Leistung „als Arbeit pro Zeit“ immer<br />

stärker auf den Menschen übertragen<br />

wurde und damit den Alltag, die Beziehungen<br />

und das Selbstverständnis<br />

vieler Menschen veränderte.Leistung<br />

sei als eine„abstrakte,zugleich objektiv<br />

messbare und steigerbare Größe“<br />

gedacht geworden, anhand derer<br />

Menschen bewertet und sozial eingeordnet<br />

wurden.<br />

Huldigung der Leistung<br />

„Ein Beispiel ist der Sport“, sagt Nina<br />

Verheyen. Zwar gingen sportliche<br />

Leistungsvergleiche historisch sehr<br />

weit zurück. Aber seit dem ausgehenden<br />

19. Jahrhundert wurden die Ergebnisse<br />

der Athleten, die aus allen<br />

sozialen Schichten kamen, mit technischer<br />

Hilfe in neuer Präzision ermittelt<br />

und vor allem mit den Ergebnissen<br />

von Athleten anderer Wettkämpfe<br />

verglichen. Das ging bis hinauf<br />

zum Weltrekord, der jederzeit<br />

Königin. Seit 2006 gibt es<br />

den Salon Sophie Charlotte<br />

der Berlin-Brandenburgischen<br />

Akademie derWissenschaften.<br />

DieVeranstaltung ist nach<br />

der Königin vonPreußen<br />

(1668–1705) benannt, die<br />

mit Leibniz die Gründung der<br />

wissenschaftlichenAkademie<br />

im Jahre 1700 initiierte.<br />

gebrochen werden konnte – und<br />

sollte. „Die antiken Olympischen<br />

Spiele huldigten den Göttern, die<br />

1896 erstmals ausgetragenen modernen<br />

Olympischen Spiele huldigten<br />

dagegen dem Menschen und seiner<br />

Leistung“, sagtVerheyen.<br />

Erstmals setzten sich in jenem<br />

Jahrhundertauch staatlich standardisierte<br />

Ziffernnoten an Schulen durch,<br />

umTransparenz undVergleichbarkeit<br />

zu schaffen. Neue Techniken sollten<br />

es zugleich möglich machen, die Arbeitsleistung<br />

im Erwerbsleben zu erfassen.<br />

Die fabrikmäßige, genau getaktete<br />

Fließbandarbeit nach dem<br />

SALON SOPHIE CHARLOTTE<br />

Veranstaltung. Der Salon<br />

2019 unterdem Motto „Maß<br />

und messen“findetam<br />

Sonnabend, 19.Januar,<br />

18–24 Uhr, an etwa20Spielorten<br />

statt: im AkademiegebäudeamGendarmenmarkt,<br />

Markgrafenstraße 38 (Mitte),<br />

und im benachbarten Wissenschaftsforum.<br />

Programm. Der Salon umfasst<br />

Gespräche,Vorträge, Lesungen,<br />

Speed Datings, Experimente,<br />

Science Slams,Ausstellungen<br />

und künstlerische<br />

Auftritte mit insgesamt mehr<br />

als 150 Mitwirkenden.Das<br />

ganze Programmfindetsich im<br />

Internet unter:<br />

www.bbaw.de/salon-2019<br />

Modell des amerikanischen Autokonzerns<br />

Ford Motor Company ist ein<br />

Beispiel dafür.<br />

Eine Basis für all diese Entwicklungen<br />

war die technische Revolution im<br />

Messwesen. Bereits Alexander von<br />

Humboldt führte 1802 bei seiner Besteigung<br />

des Chimborazo imheutigen<br />

Ecuador 24 Instrumente mit sich,<br />

darunter: Fernrohr, Thermometer,<br />

Barometer, Hygrometer, Hypsometer,Hyetometer,Elektrometer,Eudiometer,<br />

Aräometer, Graphometer, einen<br />

künstlichen Horizont und eine<br />

Leidener Flasche.Gegen Ende des 19.<br />

Jahrhunderts kamen viele neue Geräte<br />

hinzu, die etwa auch den<br />

menschlichen Körper zu einem Objekt<br />

machten, dessen Zustände man<br />

zunehmend exakter messen und anhand<br />

von Skalen bewerten konnte.<br />

Dazu gehörten das EKG, das Blutdruckmessgerät<br />

und das moderne,<br />

marktfähige Fieberthermometer.<br />

Wie vielfältig das Thema „Maß<br />

und messen“ ist, zeigen die Titel der<br />

insgesamt etwa 80 Beiträge des Salon-Abends<br />

an der Akademie. Man<br />

findet etwa die Beiträge zweier Nobelpreisträger<br />

– Klaus von Klitzing<br />

und Wolfgang Ketterle – über ein<br />

„neues Kilogramm“ und über Experimente<br />

am absoluten Temperatur-<br />

Nullpunkt. Es geht um die innereUhr<br />

der Erde, die Probleme bei der Vermessung<br />

von Wolken und das Verhältnis<br />

vonMaß und Schönheit in der<br />

Kunst. Eine Ausstellung befasst sich<br />

mit der Frage: „HundertJahrealt werden<br />

–aber wie?“ Zwei Filmemacherinnen<br />

sprechen über die „Vermessung<br />

des filmischen Raums“. Eine Podiumsdiskussion<br />

versucht zu beantworten,<br />

welche verschiedenen<br />

Bedeutungen der Begriff „vermessen“<br />

besitzt.<br />

Aber wo stößt das Messen an<br />

seine Grenzen? Was sagt zum Beispiel<br />

die immer genauere Erfassung<br />

einzelner medizinischer Daten über<br />

das Befinden und den Gesamtzustand<br />

des Menschen aus? Wassagen<br />

Vergleiche anhand vonZiffern–etwa<br />

der mathematisch berechneten Abitur-Durchschnittsnote<br />

– über die<br />

wirklichen Fähigkeiten des Einzelnen?<br />

Nina Verheyen, die Autorin des<br />

Buchs „Die Erfindung der Leistung“<br />

plädiert dafür, Leistung weder als<br />

Maß aller Dinge zu glorifizieren,<br />

noch diese Kategorie als Inbegriff kapitalistischer<br />

Ausbeutung zu verteufeln.<br />

Schließlich sei Leistung eine soziale<br />

Konstruktion. „Im Alltag wird<br />

immer wieder neu ausgehandelt,<br />

was als Leistung gilt –beziehungsweise<br />

als anerkennungswürdiges<br />

Handeln“, sagt sie. Damit eröffne<br />

sich ein Gestaltungsspielraum, der<br />

jenseits ökonomischer Verwertbarkeitslogiken<br />

genutzt werden sollte.<br />

Der Akademie-Abend kann zugleich<br />

dazu dienen, auf die Gefahren<br />

von„Maßund messen“ hinzuweisen.<br />

Etwa, was die vonverschiedenen Foren<br />

vorangetriebene körperliche und<br />

gesundheitliche „Selbstoptimierung“<br />

betrifft, die zu einer Sucht werden<br />

kann. Aber auch auf Gefahren des politischen<br />

Missbrauchs. Ein Vortrag<br />

des Abends befasst sich zum Beispiel<br />

mit der Vermessung des Menschen<br />

„in Chinas gesellschaftlichem Bonitätssystem“<br />

–eine extreme Form,den<br />

Einzelnen anhand sozialer Normen<br />

zu belohnen oder zu bestrafen.<br />

BERLINER EXPERIMENTE<br />

Ein Zell-Plan für Europa<br />

Ein Stück über Lise Meitner<br />

400 Jahre deutsche Sprache<br />

Die Zellen des Körpers verändern<br />

sich ständig. Doch welche Veränderungen<br />

gehören zur gesunden<br />

Entwicklung und welche führen zu<br />

schweren Erkrankungen, zum Beispiel<br />

Herzinfakrt und Krebs? Das will<br />

eine neue Initiative führender europäischer<br />

Forscher ergründen. Koordiniert<br />

wird das Konsortium mit dem<br />

Namen LifeTime vom Max-Delbrück<br />

Centrum (MDC) in Berlin und dem<br />

Institut CurieinParis.<br />

Wiedas MDC mitteilt, hat das Life-<br />

Time jetzt eine wichtige Hürde genommen.<br />

DieEuropäische Union investiere<br />

ein Jahr lang eine Million<br />

Euro in einen langfristigen Plan „für<br />

einen grundlegend neuen Ansatz,<br />

den stetenWandel der Zellen und ihre<br />

Beziehungen untereinander zu verstehen<br />

und damit die Grundlagen für<br />

die Präzisionsmedizin vonmorgen zu<br />

schaffen“, so das MDC. In ihrem Projekt<br />

kombinierten die Teams neueste<br />

Technologien, etwa in der Petrischale<br />

gezüchtete Mini-Organe und neue<br />

Methoden der Einzelzell-Biologie.<br />

Mitdiesen wolle man „verstehen, wie<br />

Krankheiten in einem Organismus<br />

Zelle für Zelle im Verlauf der Zeit entstehen“,<br />

sagt der MDC-Vorstandsvorsitzende<br />

Martin Lohse. (har.)<br />

Zum Gedenken an das Wirken der<br />

Physikerin Lise Meitner ist am<br />

15. Februar an der Freien Universität<br />

(FU) Berlin ein Theaterstück des<br />

Portraittheaters Wien zu sehen. In<br />

„Kernfragen – Gedenken an Lise<br />

Meitner“ geht es um Leben und Leistungen<br />

der Physikerin, die von 1878<br />

bis 1968 lebte. Lise Meitner wurde<br />

1926 als erste Frau an der <strong>Berliner</strong><br />

Universität zur außerordentlichen<br />

Professorin berufen. 1939 gelang ihr<br />

mit Otto Frisch die erste physikalische<br />

Deutung der Kernspaltung, die<br />

die Chemiker Otto Hahn und Fritz<br />

Straßmann 1938 entdeckt hatten.<br />

Im Theaterstück werde auch die<br />

Geschichte der Physik sowie die Geschichte<br />

Europas in den ersten zwei<br />

Dritteln des 20. Jahrhunderts verarbeitet,<br />

teilt die FU mit. Die Regie in<br />

dem Drei-Personen-Stück führt<br />

Sandra Schüddekopf, eine ehemalige<br />

FU-Studentin, die auch den Text<br />

verfasste. Das Stück basiert laut der<br />

Mitteilung unter anderem auf dem<br />

Briefwechsel zwischen Lise Meitner<br />

und dem Physiker Max von Laue.<br />

Eine weitere Figur, die auftritt, ist<br />

Otto Hahn. Die Projektleitung hat<br />

der Physik-Professor Heinz-EberhardMahnke.<br />

(har.)<br />

Die<br />

Berlin-Brandenburgische<br />

Akademie der Wissenschaften<br />

(BBAW)beteiligt sich an einem Großprojekt,<br />

dessen Ziel es ist, ein digitales<br />

Informationssystem zu entwickeln,<br />

um den deutschen Wortschatz und<br />

seine Veränderungen umfassend zu<br />

beschreiben. Vier deutsche Wissenschaftsakademien<br />

in Berlin, Göttingen,<br />

Leipzig und Mainz haben dazu<br />

unter dem Dach der Union der deutschen<br />

Akademien der Wissenschaften<br />

ein Zentrum für digitale Lexikographie<br />

der deutschen Sprache (ZDL)<br />

ins Leben gerufen. Es wirdam29. Januar<br />

in Berlin feierlich eröffnet.<br />

Die Aufbauphase beträgt fünf<br />

Jahre, gefördert vom Bund mit zwei<br />

Millionen Euro jährlich. Der Schwerpunkt<br />

liegt auf der lexikografischen<br />

Erfassung der deutschen Sprache in<br />

der Zeit vonetwa 1600 bis heute.Die<br />

Göttinger Arbeitsstelle des ZDL soll<br />

die Geschichte ausgewählter Wörter<br />

über 400 Jahrebeschreiben, die <strong>Berliner</strong><br />

Arbeitsstelle sich auf den Wortschatz<br />

der deutschen Gegenwartssprache<br />

konzentrieren. Im weiteren<br />

Verlauf soll es um die Sprache vor<br />

1600 gehen. DieÖffentlichkeit erhalte<br />

laut BBAW über das Internet freien<br />

Zugang zu den Ergebnissen. (har.)<br />

LifeTime. Weitere Informationen finden sich im Internet unter:mdc-berlin.de/de/news/press/<br />

lifetime-ein-visionaerer-vorschlag-fuer-ein-eu-flagschiff und lifetime-fetflagship.eu/<br />

Theaterstück über Lise Meitner: am 15. Februar,17Uhr,imHenry-Ford-Bau der FU Berlin,<br />

Garystraße 35, 14195Berlin. Der Eintritt ist frei.Anmeldung unter:einladung@physik.fu-berlin.de<br />

Digitales Lexikon. Technisch und inhaltlich baut die Plattformdes ZDL auf dem Digitalen<br />

Wörterbuch der deutschen Sprache auf, im Internet zu finden unter:dwds.de

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