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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 14 · D onnerstag, 17. Januar 2019 3 **<br />
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Brexit<br />
IMAGO<br />
Theresa Maywirkt müde,als<br />
sie am Abend im Parlament<br />
an das Pult tritt. Gerade<br />
hat der Sprecher verkündet,<br />
dass der vom Oppositionschef<br />
Jeremy Corbyn gestellte Misstrauensantrag<br />
gegen die Regierung<br />
gescheitert ist. Eine Mehrheit von<br />
325 zu 306 der britischen Abgeordneten<br />
hat der Premierministerin das<br />
Vertrauen ausgesprochen.<br />
Am Dienstagabend ist der Brexit-<br />
Deal im Parlament gescheitert. An<br />
diesem Mittwochabend nun hat<br />
Theresa May zumindest nicht verloren.<br />
Freude zeigt sie nicht, sie gibt<br />
sich kämpferisch. Sielade die Vorsitzenden<br />
der anderen Parteien ein,<br />
sich einzeln mit ihr zu treffen, sagt<br />
sie.Die Demütigung vomAbend zuvor,<br />
als eine große Mehrheit der Abgeordneten<br />
das zwischen London<br />
und Brüssel ausgehandelte Austrittsabkommen<br />
abgelehnt hat, sitzt tief.<br />
May und ihre Regierung stecken in<br />
diesen Tagen des Abschieds von der<br />
Europäischen Union in einer Krise,<br />
die dramatischer kaum sein könnte.<br />
Einst Hort der Stabilität<br />
Wasist bloß aus Großbritannien geworden,<br />
dieser einstigen Insel der<br />
Stabilität? Diese Frage stellen nicht<br />
nur die Europäer ringsum, man hört<br />
sie auch in London selbst. Ein „Gefühl<br />
der Panik“ mache sich breit,<br />
schreibt am Mittwoch der Londoner<br />
Guardian. Andere Kommentatoren<br />
sprechen vom „Durchschmelzen<br />
letzter intellektueller Sicherungen in<br />
der britischen Politik“. Zuvorhat bereits<br />
die Financial Times von einem<br />
„kollektiven Nervenzusammenbruch“<br />
gesprochen.<br />
Manche Bürger hält es inzwischen<br />
nicht mehr zu Hause.„DerWahnsinn<br />
muss gestoppt werden“, sagt die Pro-<br />
EU-Demonstrantin Rose, die aus der<br />
Grafschaft Kent angereist ist und in<br />
London mit vielen anderen erneut<br />
blau-gelbe Fähnchen flattern lässt.<br />
„Wir ruinieren uns selbst unsere Zukunft.<br />
Dasist doch verrückt.“<br />
Schon am Vorabend, als im Parlament<br />
die demütigende Niederlage<br />
für Theresa Mays Brexit-Deal verkündet<br />
wurde,jubelten draußen, vor<br />
dem Parlament, Tausende Menschen<br />
vor einer großen Leinwand.<br />
Brexit-Gegner, aus allen Ecken des<br />
Königreichs angereist, hatten sich<br />
versammelt, um für ein zweites Referendum<br />
zu demonstrieren.<br />
Zur gleichen Zeit aber rüsten die<br />
extremen Brexit-Befürworter zu<br />
neuen Machtkämpfen. „Wir wollten<br />
raus aus der EU, aber mit diesem<br />
Deal bleiben wir Vasallen von Brüssel“,<br />
sagt ein Protestant, der Brian<br />
heißt. Für ihn kann die Scheidung<br />
nicht schnell genug vollzogen sein.<br />
Am liebsten ohne Austrittsabkommen.„Brexit<br />
heißt Brexit“, schreit ein<br />
Pärchen in die Fernsehkameras.<br />
Beide haben sich die Union-Jack-<br />
Flagge ins Gesicht gemalt und Trillerpfeifen<br />
um den Hals.Manche tragen<br />
mittlerweile gelbe Warnwesten,<br />
auf denen es heißt, die EU sei<br />
„Schwachsinn“.<br />
Die Geister,<br />
die sie riefen<br />
Großbritannien war ein Musterland der Demokratie.<br />
Nach der Ablehnung des Brexit-Deals im Parlament<br />
fragen immer mehr Briten:<br />
Wasist bloß aus unserem Land geworden?<br />
VonKatrin Pribyl, London, und Matthias Koch<br />
Sie kämpft weiter:Theresa Maynach dem überstandenen Misstrauensvotum.<br />
Niegingen in London die emotionalen<br />
Wogen so hoch. Nie erschien<br />
das Parlament, das doch moderieren<br />
und integrieren soll, so kraftlos.<br />
Istdie coole britische Hauptstadt,<br />
in der man einst mit der berühmten<br />
steifen Oberlippe über jede emotionale<br />
Aufwallung hinwegzukommen<br />
schien, den Brexit-Aufwallungen<br />
nicht gewachsen? Taugt das alte System<br />
nicht mehr im Umgang mit den<br />
neuen Herausforderungen?<br />
Jahrhundertelang hat das Regierungsviertel<br />
im Schatten vonBig Ben<br />
auch in schwieriger Zeit Orientierung<br />
geboten. Jetzt ist es Ratlosigkeit,<br />
die die Politiker aller Lager verbindet.<br />
Niemand weiß hier, wie es<br />
weitergeht. Und jeder versucht, die<br />
Lage in seinem Sinne zu deuten. Die<br />
Brexit-Hardliner in Mays konservativer<br />
Partei etwa sehen nach dem<br />
überdeutlichen Nein des Parlaments<br />
zu Mays EU-Deal den Wegbereitet<br />
für die aus ihrer Sicht einzig wahre<br />
Variante, den „harten Brexit“ –ohne<br />
jede Abmachung, mit vollem Risiko.<br />
Die Liberalen dagegen und die<br />
EU-Befürworter bei Konservativen<br />
und Labour wittern jetzt eine<br />
Chance, dass nach der Variante<br />
„Deal“ auch die Variante „No Deal“<br />
ausgeschlossen wird. Am Ende<br />
könne dann nur noch der Verbleib in<br />
der EU als gangbarer Wegübrig bleiben.<br />
Die Liberale Wera Hobhouse<br />
etwa sinniert amMittwochmorgen:<br />
„Es geht darum, mehr und mehr<br />
Dinge auszuschließen.“<br />
Aber wird sich aus einem Nein<br />
hier und einem Nein da am Ende<br />
wundersam ein spätes Ja zur EU formen<br />
lassen? Diemeisten Beobachter<br />
in London bezweifeln das.<br />
Fassungslos zeigen sich Vertreter<br />
der britischen Wirtschaft. „Mir fehlen<br />
die Worte“, sagt Adam Marshall, Vorsitzender<br />
der Britischen Handelskammern,<br />
am Mittwoch. In den Unternehmen<br />
sei der Frust groß wie nie.<br />
Unddies alles habe die Londoner Politik<br />
verschuldet –durch eine „zweieinhalbjährige<br />
Achterbahnfahrt, die<br />
einfach nicht zu Ende gehen will“.<br />
In der Tatsind die Brexit-Aufwallungen<br />
kein Naturereignis, das irgendwie<br />
über Großbritannien gekommen<br />
ist. Sie sind Produkt einer<br />
Politik, die sich darauf einließ, den<br />
Geist des Populismus aus der Flasche<br />
zu lassen. Drei Punkte, sagen<br />
Politologen, könnten dabei auch als<br />
Mahnung an andereStaaten gelten.<br />
AFP<br />
Erstens: Das Spiel mit dem Volk,<br />
das David Cameron sich einfallen<br />
ließ, als er ohne Druck vonaußen das<br />
(rechtlich nicht bindende) Referendum<br />
vom23. Juni 2016 initiierte,war<br />
vonvornherein riskant. Derdamalige<br />
Premier hatte geglaubt, er könne auf<br />
diese Artdie Mitgliedschaft in der EU<br />
–und sein Amt –dauerhaft sichern.<br />
Cameron hatte sich verkalkuliert.<br />
Zwar war der Anteil der EU-Befürworter<br />
in Großbritannien viel höher<br />
als in allen zurückliegenden Jahrzehnten.<br />
DieLeave-Kampagne setzte<br />
sich aber am Ende knapp durch.<br />
Zweitens: Die Unredlichkeit, mit<br />
der Theresa MayimMoment vonCamerons<br />
Scheitern ohne zu zögern<br />
nach der Macht griff, richtete massiven<br />
Schaden an. Noch im Juni 2016,<br />
wenige Tage vor dem Referendum,<br />
warnte May in einer nichtöffentlichen<br />
Rede vorWirtschaftsführernleidenschaftlich<br />
vor einem Austritt aus<br />
der EU. „Die wirtschaftlichen Argumente<br />
sind eindeutig“, sagte sie.Von<br />
dem Auftritt existiert eine Tonaufnahme.<br />
May verabschiedete sich jedoch<br />
prompt von ihrer Pro-EU-Haltung,<br />
als sich die Möglichkeit bot,<br />
durch einen Wechsel der Meinung<br />
Premierministerin zu werden. Langjährige<br />
Wegbegleiter werfen ihr bis<br />
heute vor, sich aus bloßem Machtkalkül<br />
um 180 Grad gedreht und die britische<br />
Öffentlichkeit nie wahrheitsgetreu<br />
über die drohenden Nachteile eines<br />
EU-Austritts informiertzuhaben.<br />
Dashabe einen Schatten auf die britische<br />
Demokratie geworfen.<br />
Nächtliche Ansprache<br />
In Zeiten des Internets können –<br />
drittens – nationale Referenden<br />
leicht manipuliertwerden. Geholfen<br />
hat der Leave-Kampagne die PR-<br />
Firma Cambridge Analytica des US-<br />
Milliardärs Robert Mercer. Cambridge<br />
Analytica schickte den Briten<br />
individualisierte Anti-EU-Botschaften<br />
und nutzte dazu Millionen widerrechtlich<br />
erlangter persönlicher<br />
Nutzerprofile von Facebook. „Ohne<br />
diesen Datendiebstahl hätte die Brexit-Kampagne<br />
nicht gewonnen“,<br />
sagt der Whistleblower Christopher<br />
Wylie, der bei der inzwischen geschlossenen<br />
Firma Cambridge Analytica<br />
arbeitete. Gesteuert wurden<br />
die Manipulationen angeblich von<br />
Steve Bannon, der anschließend<br />
Wahlkampfleiter von Donald Trump<br />
wurde.Derzeit residiertBannon in einem<br />
früheren Kloster in Italien, 90 Kilometer<br />
vor Rom. Dort lässt er mit<br />
Blick auf die Europawahlen am 26.<br />
Mai EU-feindliche Nationalisten zu<br />
„Agenten desWandels“ ausbilden.<br />
Wiegeht es nun weiter in London?<br />
DiePosition vonTheresa Maykönnte<br />
nicht schwächer sein. Allerdings: Auf<br />
die Konservative sind schon unzählige<br />
Abgesänge verfasst worden.<br />
Am späten Mittwochabend, es ist<br />
das Ende eines harten Tages, erklärt<br />
sie vor dem Regierungssitz, sie halte<br />
es für ihrePflicht, Großbritannien aus<br />
der EU zu führen. Am Montag muss<br />
Maydem Parlament einen Plan Bpräsentieren.<br />
Der<br />
Unparteiische<br />
auf dem Thron<br />
John Bercow sorgt im<br />
Unterhaus für Ordnung<br />
VonDaniel Killy<br />
Erist der Mann, der für Ordnung<br />
im Brexit-Chaos sorgt. Wenn<br />
John Bercow von seinem Thron sein<br />
langgezogenes „Order“ durch Großbritanniens<br />
Unterhaus schallen<br />
lässt, hören selbst hartgesottene Abgeordnete<br />
auf zu zetern. Der dreifache<br />
Familienvater, 55Jahre alt, trägt<br />
seit zehn Jahren den Traditionstitel<br />
Speaker of the House of Commons.<br />
Angeblich war es eine Begegnung<br />
mit der späteren britischen Premierministerin<br />
Margaret Thatcher in deren<br />
Wahlkampf<br />
von 1979, die<br />
Bercow dazu inspirierte,<br />
der<br />
Konservativen<br />
Partei, den Tories,<br />
beizutreten.<br />
Als junger Mann<br />
gehörte er dem<br />
rechts-konservativen<br />
„Monday<br />
Club“ an, den er<br />
aber schnell wieder<br />
verließ –nach<br />
DPA<br />
John<br />
Bercow<br />
eigener Aussage<br />
war ihm die rassistische Haltung einiger<br />
der Mitglieder zuwider.Seine Partei-Mitgliedschaft<br />
wiederum lässt<br />
Bercow,der ein Brexit-Gegner ist, seit<br />
seinerWahl zum Speaker im Jahr 2009<br />
ruhen. DerSprecher,sowollen es die<br />
uralten Regeln der britischen Demokratie,hat<br />
neutral zu sein.<br />
Das Amt, das Bercow bekleidet,<br />
ist beinahe so alt wie das britische<br />
Parlament. In der bis heute gültigen<br />
Form existiertesseit 1376. DerSpeaker<br />
hat für Ruhe und Ordnung während<br />
der Sitzungen zu sorgen. Eine<br />
Aufgabe, die angesichts der Enge in<br />
dem uralten Parlamentsraum, in<br />
dem die Abgeordneten von Regierung<br />
und Opposition sich direkt gegenübersitzen,<br />
keine leichte ist.<br />
Doch wie Generationen seiner Vorgänger<br />
schafft es Bercow,der mit der<br />
Labour-Politikerin Sally Kate Bercow<br />
verheiratet ist, mit einer Mischung<br />
aus Strenge und Sarkasmus, die 650<br />
Abgeordneten zu disziplinieren. Nur<br />
mit seiner Erlaubnis dürfen die Abgeordneten<br />
das Wort ergreifen. Und er<br />
entscheidet, über welche Änderungsanträge<br />
das Parlament abstimmt.<br />
Nicht allen Kollegen gefällt der<br />
theatralische Stil des Politikers mit den<br />
verwuschelten Haaren. VonGegnern<br />
und Anhängern gleichermaßen beäugt<br />
wirdseine Schlips-Kollektion. Am<br />
Tag der historischen Brexit-Debatte<br />
trug er ein Modell mit geometrischem<br />
Zickzack-Muster in Regenbogenfarben.<br />
Maximal neutral. (mit BLZ)