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Berliner Zeitung 19.01.2019

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26 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 16 · 1 9./20. Januar 2019<br />

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Feuilleton<br />

SONNTAGSKRIMI<br />

Schicht<br />

im<br />

Schacht<br />

VonJürgen Holtz aus dem Teig<br />

geschnitten und gebacken:<br />

Pommerscher Lebkuchen<br />

VonTorsten Wahl<br />

Begleitet voneinem Trauermarsch<br />

erscheinen Bilder von stillgelegten<br />

Stahlwerken, toten Zechen und<br />

verfallenen Bergarbeiterhäuschen. In<br />

dieser Szenerie war schon Schimanski<br />

unterwegs, „Schicht im<br />

Schacht“ hieß vorgut zehn Jahren einer<br />

seiner letzten Fälle. Genau denselben<br />

Slogan kleben nun drei Männer<br />

auf Plakate.Kein Zufall: Autor Jürgen<br />

Werner schrieb sowohl das Drehbuch<br />

für den Schimanski-Krimi als<br />

auch für den aktuellen Fall „Zorn“<br />

und lässt Kommissar Faber (Jörg<br />

Hartmann) wie einen Wiedergänger<br />

vonGötz Georges Figur erscheinen.<br />

Sein Parka wirkt genauso abgerissen<br />

wie einst Schimanskis Jacke und<br />

in der Kumpelkneipe bestellt er schon<br />

tagsüber ein „lecker Pils“. Einer der<br />

drei Plakatkleber wird mit einem<br />

Schuss in den Rücken gefunden –<br />

„Rückgrat des Ruhrpotts“ nennt ihn<br />

später der Trauerredner. Besonders<br />

zornig wirken zunächst die beiden<br />

anderen aus dem Klebe-Trupp: Der<br />

eine (Thomas Lawinky) war aus seinem<br />

einsturzgefährdeten Haus geflohen,<br />

der andere(Andreas Döhler) von<br />

seiner Frau rausgeworfen worden.<br />

Der Krimi von Regisseur Andreas<br />

Herzog führtnoch eine weitereTradition<br />

des Ruhrpott-„Tatorts“ fort: die<br />

harten Konflikte unter den Ermittlern.<br />

Diesmal duelliert sich Peter Faber<br />

nicht nur mit Kollegin Böhnisch<br />

(Anna Schudt), sondern legt sich mit<br />

einer arroganten Verfassungsschützerin<br />

(Bibiana Beglau) an. Die Dame<br />

beschimpft ihn sogar als „dämliches<br />

Arschloch“ – weil Faber ihrem V-<br />

Mann auf die Füße tritt, einem<br />

„Reichsbürger“(Götz Schubert), der<br />

Waffen hortet und alle Parolen seiner<br />

Szene deklamiert. Während der Konflikt<br />

zwischen dem Kriminalpolizisten<br />

und der Verfassungsschützerin<br />

noch auf unterschiedlichen Absichten<br />

basiert, wirkt ein weiterer Konflikt<br />

leider nur nervend. Auch die Jungkommissare<br />

Nora Dalay (Aylin Tezel)<br />

und JanPawlak (Rick Okon) sabotieren<br />

sich ständig gegenseitig, was die<br />

Figuren aber weder interessanter<br />

macht noch den immer wieder stockenden<br />

Film vorantreibt. Zum Finale<br />

klettert Nora Dalay dann völlig<br />

übermotiviert mit gezogener Pistole<br />

auf dem imposanten Stahlwerksturm<br />

herum, so dass man sich fast<br />

wünscht, das Motto „Schicht im<br />

Schacht“ gelte auch für sie.<br />

Tatort: Zorn So,20. 1., 20.15, ARD<br />

Dalay(Aylin Tezel) und Pawlak (Rick Okon)<br />

mit dem Kumpel Kropp (Andreas Döhler) ARD<br />

TOP 10<br />

Donnerstag,17. Januar<br />

1 Der Bergdoktor ZDF 6,99 21 %<br />

2 Handball-WM ARD 6,76 27 %<br />

3 Tagesschau ARD 6,28 20 %<br />

4 Bozen-Krimi ARD 5,61 17 %<br />

5 Ich bin ein Star... RTL 5,22 26 %<br />

6 heute-journal ZDF 4,90 17 %<br />

7 Sportschau Studio ARD 4,68 19 %<br />

8 Notruf Hafenkante ZDF 3,72 12 %<br />

9 SOKOStuttgart ZDF 3,64 15 %<br />

10 heute ZDF 3,52 13 %<br />

ZUSCHAUER IN MIO/MARKTANTEIL IN %<br />

Jürgen Holtz wirkt kleiner und<br />

zerbrechlicher als auf der<br />

Bühne. Erhat ein frisch gebügeltes<br />

Hemd in strahlendem<br />

Rosa an und sitzt am Tisch seiner<br />

Wohnküche. Die erste Kanne Teeist<br />

schon fast ausgetrunken. Gebäck,<br />

von dem noch die Rede sein wird,<br />

steht bereit. Vomgezückten Diktiergerät<br />

− „Solldas eine Drohung sein?“<br />

− lässt sich Holtz in seiner Plauderlaune<br />

nicht bremsen. Obwohl, ein<br />

bisschen Anlauf braucht er an diesem<br />

winterdunklen Sonntagnachmittag.<br />

Das Befinden lässt zu wünschen<br />

übrig, aber die Müdigkeit,<br />

diese entsetzliche Müdigkeit, von<br />

der der 86-Jährige spricht, scheint<br />

nach ein paar Sätzen wie weggeblasen.<br />

Holtz ist inspiriert, steckt voller<br />

Geschichten, Hintergrundwissen<br />

und Meinungen, die er loswerden<br />

will. Eigentlich wollen wir über die<br />

am heutigen Sonnabend stattfindende<br />

Premiere von „Galilei“ in der<br />

Regie von Frank Castorf am<strong>Berliner</strong><br />

Ensemble sprechen, machen wir<br />

auch. Aber es ist auch viel anderes<br />

mitteilenswert.<br />

Wirkommen auf die Hymnen des<br />

arabischen Dichters Fuad Rifka zu<br />

sprechen, eine davon hat Holtz vor<br />

einem Jahr bei der Beerdigung seines<br />

Freundes, des Dramaturgen Otto-<br />

Fritz Hayner, rezitiert. Holtz hält ein<br />

Referat über die Erotik der Oud, der<br />

arabischen Kurzhalslaute,die einem<br />

Mythos zufolge auf den biblischen<br />

Lamech, einen Sohn des Methusalem,<br />

zurückgeht. Lamech habe die<br />

Form des Instruments dem Skelett<br />

seines Sohnes nachempfunden, dessen<br />

Leichnam an einem Baum hing.<br />

Interessant. Es geht um Holtz’ Anfänge<br />

in Erfurt, wo der Absolvent<br />

seine pommersche Widerborstigkeit<br />

nicht verhehlen konnte, etwa als er<br />

im HO-Fleischer den Fachverkäufer<br />

für seine aus Schmalz geformten<br />

Panzer beschimpfte, und in Brandenburg<br />

ander Havel, wo die Stahlwerker<br />

nur Operetten sehen wollten.<br />

Und immer wieder fällt der Satz:<br />

„Aber ich komme ins Schwatzen ...“<br />

Soll er doch! Wir werden schon immer<br />

mal wieder zum Thema zurückkommen<br />

und zwischendurch zuWesentlichem<br />

abschweifen.<br />

Herr Holtz, da liegt ein Reclam-<br />

Bändchen mit Märchen von Hans-<br />

Christian Andersen.<br />

Das hat mir meine Frau geschenkt,<br />

weil ich dachte, ich kenn<br />

das alles gar nicht mehr richtig. Und<br />

merkwürdig: Ich stelle fest, dass<br />

meine Mutter mir damals vor langer<br />

Zeit sehr viele von diesen Märchen<br />

vorgelesen hat. Es war ein unglaublich<br />

warmes und gutes Gefühl, als ich<br />

merkte, dass ich das alles von ihr<br />

kannte. Und ich habe mein Lieblingsmärchen<br />

wiedergefunden: „Des<br />

Kaisers neue Kleider“. Dass dieses<br />

naive Kind hingeht und sagt: „Aber<br />

der Kaiser ist doch nackt.“ Das Kind<br />

sieht, was alle Erwachsenen nicht sehen.<br />

Und ich denke, somüsste eigentlich<br />

Theater sein. Sich diese Eigenschaft<br />

zu bewahren als Schauspieler<br />

ist sehr wichtig und gelingt<br />

nicht immer.<br />

Hat Galilei einen ähnlichen Blick?<br />

Diesen Blick auf die Wahrheit?<br />

Man muss ein bisschen die Geschichte<br />

im Auge behalten. Galilei ist<br />

nicht allein, er lebte am Ende der Renaissance<br />

schon am Übergang zum<br />

Barock. Zugleich finden überall<br />

Kriege statt, in Deutschland wütet<br />

der Dreißigjährige.Esgibt Elend und<br />

Reichtum, Pest und Inquisition. Das<br />

spielt alles eine Rolle für diesen Typus.Esist<br />

einaufmerksamer Typus.<br />

Finden Siesich in ihm wieder?<br />

Galilei hat Möglichkeiten in sich,<br />

die ich nicht habe, nämlich analytisch<br />

vorzugehen, dieWelt zu mathematisieren.<br />

Dem Himmel kommt<br />

man nur mit Mathematik bei. Die<br />

Verstehensprobleme des Kosmos<br />

sind mathematische Probleme, die<br />

sich nur mit Hilfe von Formeln fassen<br />

lassen. E=mc². Das ist eine der<br />

kosmischen Formeln. Dertiefste von<br />

uns bisher entdeckte Zusammenhang<br />

zwischen Energie und Masse.<br />

Dass die beiden im Grunde dasselbe<br />

sind und eins aus dem anderen hervorgehen<br />

kann. Ich verstehe nichts<br />

von Mathematik, aber ich habe<br />

selbst davon geträumt.<br />

Sie träumen mathematische Weltzusammenhänge?<br />

Ja.Das wirdwohl an meinem Gehirn<br />

liegen. Manche werfen mir ja<br />

vor, ich sei ein kalter, logischer<br />

Schauspieler. Sollen sie das sagen.<br />

Ich bestehe nicht nur aus Gefühlen,<br />

sondern ich bestehe auch aus Verstand.<br />

Und ich sage Ihnen, ich habe<br />

diesen Verstand auch gebraucht in<br />

diesem Leben. Undeshat mir trotzdem<br />

nichts genutzt.<br />

HatesIhnen geschadet?<br />

Verstand schafft Leiden.<br />

Hätte Galilei schweigen sollen?<br />

Talente können das nicht. Talente<br />

müssen alles veröffentlichen. Wie<br />

Liebende, wie Irre, wie Verbrecher,<br />

wie Kinder.Sie sind gezwungen, das,<br />

was ihnen durch den Kopf geht und<br />

was sie in sich ausarbeiten oder was<br />

ihr Verlangen und ihr Bedürfnis ist,<br />

auszuplaudern.<br />

Istdas Eitelkeit?<br />

Also,ich habe noch keinen intelligenten<br />

Menschen kennengelernt,<br />

der nicht eitel wäre. Wir sind Primaten.Wirsehen<br />

uns gernimSpiegel an<br />

und finden uns hübsch und schön.<br />

Männer insbesondere, Frauen aber<br />

auch. DieEitelkeit hängt zusammen<br />

mit den erotischen Spielen. Also mit<br />

allem, was uns treibt und lockt. Eitelkeit<br />

ist eine gute Eigenschaft. In Maßen,<br />

das wollen wir noch hinzusetzen.<br />

Bitte kosten Sie doch. Ich habe<br />

das selbst gebacken.<br />

Spekulatius?<br />

Nein, Pfefferkuchen! Das ist kein<br />

Spekulatius. Das ist ein ururaltes<br />

pommersches Rezept für Weihnachtsgebäck<br />

von der Großtante<br />

meines Onkels aus Hinterpommern.<br />

IstdaAnis dran?<br />

Auch Anis. Da sind sieben Gewürze<br />

dran, und ich mache die Mischung<br />

selbst.<br />

Einpommersches Staatsgeheimnis?<br />

Nein. Das Rezept hat mir meine<br />

Mutter aufgeschrieben. Vielleicht ist<br />

das –neben den Erinnerungen –das<br />

wichtigste Erbstück, das ich von ihr<br />

habe. Ich mache jedes Jahr davon<br />

etwa sechs Kilogramm. Das ist ein<br />

langer Herstellungsprozess, der Anfang<br />

November anfängt. Da hole ich<br />

Gewürze beim Gewürzhändler. Alle<br />

sieben Gewürze müssen sehr frisch<br />

sein. Unddann mache ich meine Mischung.<br />

Dazu kommen fein gehackte<br />

Zitronen- und Apfelsinenschale,<br />

Honig und Zucker. Zucker<br />

nur zum Festigen des Honigs! Und<br />

ein gutes Mehl, das kaufe ich lieber<br />

nicht im Supermarkt. Kein Wasser!<br />

Keine Milch! Alles wird trocken gemischt.<br />

DieZutaten mit den Gewürzenund<br />

den Treibmitteln, als da wären<br />

Hirschhornsalz und Pottasche.<br />

Kein Backpulver! Das schmeckt<br />

man heraus.Der Teig ist sehr schwer<br />

und wird insoPakete von anderthalb<br />

Kilogramm geteilt und geknetet.<br />

Irgendwann rutschen die Kugeln<br />

zusammen und werden glatt.<br />

Unbedingt mit den Händen kneten!<br />

Nicht mit der Maschine! DieKugeln<br />

werden in Tücher mit Mehl gewickelt,<br />

weil der Teig noch nachschwitzt.<br />

Dann wirddas Ganzeweggestellt,<br />

irgendwohin, wo es kalt ist.<br />

Auf keinen Fall in den Kühlschrank!<br />

Nach mindestens drei Wochen wird<br />

es warmgeknetet, was sehr anstrengend<br />

ist. Dann wird es genudelt,<br />

also gewalzt, und dann schneide ich<br />

meine Figuren aus. Die kommen<br />

auf die heißen Bleche, die sind mit<br />

Bienenwachs eingestrichen. Da<br />

hole ich mir immer einen großen<br />

Blockvom Imker.<br />

Schmeckt’s denn wiebei Ihrer Mutter?<br />

Ichweiß das nicht mehr.Ich habe<br />

dieDinger damals gar nicht gemocht.<br />

Das ist kein Gebäck für Kinder. Ich<br />

mache das einfach sehr gernund ich<br />

verschenke jedes Jahr viele Figuren,<br />

die ich mit der freien Hand aus dem<br />

Teig schneide.Alles Unikate.Das mache<br />

ich mit meiner jüngsten Tochter<br />

zusammen in derVorweihnachtszeit<br />

schon seit sie zwölf ist. Quatschen,<br />

kneten, formen.<br />

Erfolg<br />

ist nichts<br />

Der Schauspielkünstler Jürgen Holtz spielt mit 86 Jahren<br />

Brechts Galilei in der Regie von Frank Castorf<br />

VonUlrich Seidler<br />

BÜHNENLAUFBAHN<br />

Geburtund Herkunft: Jürgen Holtz wurde 1932 in Berlin geboren, ging 1949<br />

in die DDR, studierte im Theaterinstitut Weimar.<br />

Karriere in der DDR: Seine Engagements führten ihn vonErfurt, Brandenburg,<br />

Greifswald nach Berlin, 1964 an die Volksbühne, 1966 ans <strong>Berliner</strong> Ensemble,<br />

1974 ans <strong>Berliner</strong> Ensemble. 1977 wiederum an die Volksbühne.<br />

Karriere im Westen: 1983 verließHoltz die DDR, spielte in München und<br />

Frankfurta.M.. Nach der Wendewar er am DT beschäftigt, ab 2000 am Nationaltheater<br />

Mannheim und ab 2007 am BE.<br />

Film und Fernsehen: Holtz stand seit 1957 („Berlin −EckeSchönhauser“)<br />

vielfach vorder Kamera, in den Neunzigernwurde er als der Nörgler Motzki in<br />

der gleichnamigen ARD-Serie bekannt.<br />

Das ist schön! Man möchte glatt ein<br />

bisschen mitkneten.<br />

Ja, das ist wirklich schön. Die<br />

Leute,denen ich das schenke,freuen<br />

sich. Weil es so etwas nicht mehr gibt.<br />

Weil das aus der Welt ist, wenn ich es<br />

nicht mehr mache.Ich bin der Letzte,<br />

und ich habe meine Freude damit.<br />

Vielleicht finden manche, dass das<br />

Kitsch ist. Aber das macht mir nichts<br />

aus. Die Welt ist voller Kitsch. Meine<br />

Tochter forscht übrigens heute in Panama<br />

an der Linguistik der Fledermäuse.Die<br />

Fledermäuse sind Säugetiere,<br />

und die Mütter bringen ihren<br />

Kindern die Fledermaussprache bei.<br />

Es geht darum, herauszufinden, wie<br />

diese Laute gelernt, übertragen werden<br />

und wie sie in welchen Unterhaltungen<br />

funktionieren. DieStrukturen<br />

vonSäugetieren sind immer ähnlich.<br />

Es geht also in der Erforschung der<br />

Fledermaus-Linguistik auch um uns.<br />

Es geht in deren Unterhaltungen vielleicht<br />

auch um mehr als um bloßen<br />

Informationsaustausch. Aber ich<br />

komme ins Schwatzen. Fragen Sie!<br />

Forschung ist ein gutes Stichwort.<br />

Muss man sich als Wissenschaftler<br />

Grenzen setzen? Brecht hatte, als er<br />

an der dritten Fassung des „Galilei“<br />

schrieb, die Atombombe im Sinn.<br />

Heute sind es Felder wie Genetik, Robotik<br />

oder künstliche Intelligenz, bei<br />

denen man sich fragt, ob die Ethik<br />

hinterherkommt.<br />

Das sind zwei Dinge: Das eine ist<br />

die Neugierde, die Entdeckerfreude.<br />

Das andere ist die Frage, wie die Gesellschaft,<br />

wie der Staat als der Organisator<br />

der Gesellschaft in der Lage

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