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B2 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 16 · 1 9./20. Januar 2019<br />
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Reise<br />
Von Sascha Rettig<br />
Die Leute schauen Amber<br />
Loo immer wieder sichtbar<br />
irritiert hinterher. Die<br />
meisten können sich ein<br />
Grinsen nicht verkneifen. Es wirkt<br />
durchaus ein bisschen irre, dass die<br />
40-Jährige durch London läuft und<br />
dieses Teil schwingt: diesen Pömpel,<br />
auf Englisch Plunger genannt, diese<br />
Gummi-Saugglocke, mit der man<br />
normalerweise lästige Toilettenverstopfungen<br />
beseitigt.<br />
Ambers Exemplar ist allerdings<br />
nicht rot, sondern blau. Außerdem<br />
hat sie es rundherum mit Plastikklunkern<br />
aufgehübscht. Schließlich<br />
blieb ihrem Pömpel das Schicksal<br />
der profanen Toilettenverwendung<br />
erspart. Stattdessen benutzt sie ihn<br />
auf ihrer Tour wie andere Fremdenführer<br />
ihr Fähnchen –ganz ihrem<br />
Thema angepasst.<br />
Denn Amber erzählt, was sonst<br />
diskret oder naserümpfend verschwiegen<br />
wird. Es geht um die Londoner<br />
Kanalisationsgeschichte und<br />
eine kleine Kulturhistorie der Toilette<br />
in der britischen Hauptstadt. Dafür<br />
folgen ihr heute eine Handvoll Leute<br />
aufder Loo-Tour, die passenderweise<br />
an der Waterloo Station beginnt und<br />
bis zu einer Cocktailbar im West End<br />
führt, die früher mal eine öffentliche<br />
Bedürfnisanstalt war.<br />
Geschichte stinkt zum Himmel<br />
Die üblichen Sehenswürdigkeiten<br />
werden entsprechend zur Nebensache.<br />
Big Ben und Houses of Parliament?<br />
Sind zwar in Sichtweite,<br />
aber keine Erwähnung wert. Trafalgar<br />
Square? Wird links liegengelassen.<br />
Das Riesenrad London Eye?<br />
Davor wird viel lieber die Toilette<br />
besucht, die vor fünf Jahren zum<br />
Diamond Jubilee der Queen errichtet<br />
wurde. Dort arbeitet sich Amber<br />
an der Schlange mit Touristen vorbei,<br />
die hier aus den üblichen Gründen<br />
anstehen.<br />
Ambers Gefolgschaft hingegen<br />
machtimToilettenhausErinnerungsfotos:<br />
Von der Queen, die staatstragend<br />
aus einem Porträt zwischen<br />
zwei Toilettentüren heraus auf einen<br />
Wo die Queen auf Klorollen blickt<br />
Die „Loo-Tour“ zu Londons stillen Örtchen ist derb-komisch, aber auch informativ<br />
Austreten mit Union Jack<br />
Immer der Frau mit dem Pömpel nach: Amber Loo führt Touristen zu ganz außergewöhnlichen Orten. RETTIG (3) Da strahlt die Queen: alles blitzsauber.<br />
Stapel Klorollen blickt. Und vom womöglich<br />
patriotischsten Örtchen des<br />
Vereinten Königreichs, an dem der<br />
Union Jack, die britische Flagge, den<br />
Deckel genauso ziert wie den Spiegel.<br />
„Über eine Million Besucher benutzen<br />
diese Toilette. Sie ist nicht nur immer<br />
sehr sauber, sondern auch umweltfreundlich,<br />
denn gespült wird mit<br />
Regenwasser“, sagt Amber Loo, eine<br />
gebürtige Texanerin, die eigentlich<br />
Amer Raney Kincade heißt und seit<br />
16 Jahren in London lebt. Dieser moderne<br />
Toilettentempel reicht vielleicht<br />
nicht ganz an königliche Standards<br />
heran; für die Öffentlichkeit allerdings<br />
ist sie so komfortabel, wie<br />
man es für 50 Pence erwarten kann.<br />
Dass es bis in dieses sagrotane Sanitärzeitalter<br />
allerdings ein langer<br />
Weg war, das wird auf der Tour deutlich.<br />
43 nach Christus kamen zwar die<br />
Römer, gründeten Londinium und<br />
brachten gleich ihr Kanalisationswissen<br />
mit. Die wichtigste Entwicklung<br />
fand aber erst im 19. Jahrhundert<br />
statt: „Damals war vor allem die<br />
Themse die Toilette der Stadt“, sagt<br />
Amber. „Um 1850 war sie breiter, flacher,<br />
langsamer.“<br />
Im Winter war sie zugefroren, im<br />
Sommer stank sie durch die Stadt, die<br />
immer weiter wuchs und Mitte des<br />
19. Jahrhunderts bereits über drei<br />
Millionen Einwohner hatte. „More<br />
people, more poo –mehr Menschen,<br />
mehr Fäkalien“, erklärt sie und erzählt,<br />
dass die Einführung von Wasserspülungen<br />
zu der Zeit zwar ein<br />
großer Fortschritt war, das Abwasser<br />
aber die damalige Kanalisation überforderte.<br />
Es floss in die Themse und<br />
wurde dort zu einem großen Problem:<br />
neben beißendem Gestank<br />
verbreitete sich die Cholera.<br />
Denn durch den Überfluss an Fäkalien<br />
ging 1858 als das Jahr des<br />
„Great Stink“ in die Geschichte der<br />
Stadt ein. Heldenhaft Abhilfe schaffte<br />
ein Ingenieur namens Joseph Bazalgette:<br />
An den Stellen, wo man bis<br />
heute am Ufer die drei Embankments<br />
findet, sorgte erdafür, dass der Fluss<br />
verengt und die Fließgeschwindigkeit<br />
erhöht wurde. Außerdem installierte<br />
er die neue Kanalisation, die heute<br />
noch in Betrieb ist.<br />
Auch über die Historie hinaus<br />
sprudelt Amber Loo auf dem Rundgang<br />
nur so vor allerlei obskuren Fakten<br />
rund ums Örtchen. Sie erzählt<br />
von Dienern, die einst die Sitze aus<br />
kühlem Marmor anwärmten. Oder<br />
zeigt modernste öffentliche Pissoirs,<br />
die sich tagsüber unter einem Gullideckel<br />
verstecken, abends aber aus<br />
dem Boden gefahren werden. Außerdem<br />
gibt sie einen Einblick in die<br />
Politik und das Geschäft mit dem<br />
Geschäft. All das trägt sie mit einem<br />
entsprechenden Pee-Poo-Humor<br />
vor. Derb und furchtlos –nicht nur,<br />
wenn sie so komisch wie anschaulich<br />
zeigt, wie sich die Menschen früher<br />
mit einem Schwamm am Stock<br />
abgewischt haben.<br />
Toilette mit Aussicht<br />
Bei aller Leidenschaft für das Toilettenthema:<br />
Initiatorin der Loo-Tour<br />
war Amber aber nicht. Das war vielmehr<br />
die Idee ihrer Freundin Rachel,<br />
die esentsetzlich fand, in so vielen<br />
öffentlichen Toiletten bezahlen zu<br />
müssen. Also suchte sie nach kostenlosen<br />
Möglichkeiten, versenkte<br />
sich in die Materie und teilte ihr angehäuftes<br />
Toiletten-Wissen schließlich<br />
erst mit einer Freundin und<br />
dann auf ihren Loo-Tours. Vor etwas<br />
mehr als einem Jahr hörte sie damit<br />
auf und reichte den Pömpel an ihre<br />
Nachfolgerin Amber weiter.<br />
„In den vergangenen zehn Jahren<br />
wurden sicherlich um die 40 Prozent<br />
der kostenlosen Toiletten geschlossen“,<br />
sagt die Fremdenführerin. In<br />
der Royal Festival Hall am Southbank-Ufer<br />
der Themse gebe es aber<br />
sechs Stockwerke mit Gratis-Klos.<br />
Die Damen-Toilette im Untergeschoss<br />
sei sogar noch original aus<br />
schwarzem Marmor. „Darauf ein<br />
Halle-Loo-Yah!“, ruft sie und hält<br />
den Pömpel feierlich hoch. Ganz anders<br />
im The Shard. „Dort gibt es ein<br />
Loo with aview, eine Toilette mit<br />
Aussicht“, berichtet sie auf der Jubilee<br />
Bridge und zeigt mit der Saugglocke<br />
auf den markanten Wolkenkratzer<br />
in der Skyline. Man muss allerdings<br />
25 Pfund investieren, um<br />
auf die Aussichtsplattform zu fahren.<br />
Dort könne man dann mit Panoramablick<br />
austreten.<br />
Diese Reportage wurde unterstützt<br />
von Visit Britain, www.visitbritain.com.<br />
Loo-Tours bietet do., sa. und so. zwei<br />
unterschiedliche Touren an. 12 Pfund<br />
für Erwachsene; 10 Pfund ermäßigt.<br />
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