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Berliner Zeitung 21.02.2019

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12 * <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 44 · D onnerstag, 21. Februar 2019<br />

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Berlin<br />

Grün und Schwarz: Boris Palmer (links) und Burkard Dregger (rechts) vor den Kameras vereint im Görlitzer Park in Kreuzberg.<br />

BERLINER ZEITUNG/PAULUS PONIZAK<br />

Der Palmer-Effekt wirkt<br />

zuverlässig. RTL, SWR,<br />

DieWelt –gut 20 Journalisten<br />

mit Kameras und<br />

Aufnahmegeräten warten am Mittwochmorgen<br />

auf den grünen Tübinger<br />

Oberbürgermeister Boris Palmer<br />

und den <strong>Berliner</strong> CDU-Fraktionsvorsitzenden<br />

Burkard Dregger, als<br />

sie auf die Messe Berlin zuschlendern.<br />

Er sei mit der S-Bahn angereist,<br />

sagt Palmer. „Das hat schon mal<br />

funktioniert.“ Den „Kamerawald“<br />

könne er sich nicht erklären.<br />

Palmer kokettiert. Der 46-Jährige<br />

weiß sehr genau, wie die Medien und<br />

ihr Zusammenspiel mit der Politik<br />

funktionieren. Nur sohat er es als<br />

Bürgermeister einer süddeutschen<br />

Kleinstadt mit nur knapp 90 000 Einwohnern<br />

zubundesweiter Bekanntheit<br />

gebracht. Das Palmer-Prinzip:<br />

Der Mann sorgt für Aufregung, am<br />

liebsten in der eigenen Partei, und<br />

erregt damit maximale Aufmerksamkeit.<br />

Jede Presse ist gute Presse.<br />

Sind es häufig die Themen Asyl<br />

und Abschiebungen, bei denen Palmer<br />

gegen den grünen Strom<br />

schwimmt, schaffte er es zuletzt mit<br />

seiner vernichtenden Berlin-Kritik<br />

auf die Titelseiten. „Wenn ich in Berlin<br />

ankomme,denke ich immer:Vorsicht,<br />

Sie verlassen den funktionierenden<br />

Teil Deutschlands“, sagte er<br />

in einem Interview. Nichts laufe in<br />

der Hauptstadt –Kriminalität, Drogen<br />

und Armut seien omnipräsent.<br />

EinMittelfinger für die Grünen<br />

An diesem Tagbetont er mehrfach:<br />

Er habe überspitzt und wolle das<br />

nicht als Kritik an den <strong>Berliner</strong> Grünen<br />

verstanden wissen. Er sagt aber<br />

auch: Seine Kritik beziehe sich vorallem<br />

auf das Versagen der Verwaltung<br />

und der öffentlichen Strukturen.<br />

EinZurückrudern, eine Entschuldigung<br />

ist das nicht, sondern vielmehr<br />

ein großer Mittelfinger in Richtung<br />

der <strong>Berliner</strong> Parteikollegen, die<br />

seit zwei Jahren mit SPD und Linken<br />

regieren. Dass die Einschätzung von<br />

einem Schwaben kommt, der sich<br />

stolz als „Provinzpflanze“ bezeichnet,<br />

macht die Sache nicht besser.<br />

Kurz vor dem Besuch nannte die<br />

grüne Fraktionschefin Antje Kapek<br />

Palmer einen „Irren“. Ein Zeichen<br />

maximaler Reizung. BeiPalmer führt<br />

das nur zu maximaler Zufriedenheit.<br />

„Meine Wortwahl ist das nicht“, sagt<br />

er jovial über Kapek. Er habe sich nie<br />

negativ über die <strong>Berliner</strong> Grünen geäußert,<br />

umgekehrt habe es wüste<br />

Beschimpfungen gegeben. „Ich<br />

scheine da ein Feindbild zu sein.“<br />

So verstimmt die Grünen, so<br />

glücklich die CDU: Manhabe Palmer<br />

eingeladen, um ihm Berlin zu zeigen,<br />

sagt Dregger vor der Messe mit<br />

gefalteten Händen –und zwar die<br />

guten Seiten ebenso wie die, bei denen<br />

es noch hapere. Zwei Stunden<br />

haben sie dafür eingeplant, drei Stationen<br />

stehen auf der Liste: Neben<br />

dem neuen Messe-Anbau, den Dregger<br />

als Leuchtturm und Glanzpunkt<br />

aus Zeiten der vorangegangenen rotschwarzen<br />

Koalition verkauft, werden<br />

die beiden eine Messstation an<br />

der Leipziger Straße ansteuern, wo<br />

ein Fahrverbot droht, und danach<br />

den Görlitzer Park.<br />

Die Stoßrichtung ist klar: Was in<br />

Berlin läuft, kommt von der CDU.<br />

Den Rest hat R2G verbockt. Nun<br />

bitte draufhauen, Herr Palmer.<br />

Gute Presse könnte Dregger gebrauchen.<br />

2016 fuhr die CDU mit<br />

17,6 Prozent das schlechteste Ergebnis<br />

aller Abgeordnetenhauswahlen<br />

ein und ist seither in der ungeliebten<br />

Oppositionsrolle. Erst am Tagzuvor<br />

hat Dregger persönlich eine schwere<br />

Schlappe einstecken müssen, als<br />

seine Fraktion doch einen Untersuchungsausschuss<br />

zur Causa Knabe<br />

und dessen Kündigung in der Gedenkstätte<br />

Hohenschönhausen forderte<br />

(siehe Bericht auf Seite 16). Gegen<br />

DreggersWillen. Palmers Besuch<br />

wirkt plötzlich nicht mehr nur wie<br />

eine amüsante PR-Nummer, sondern<br />

wie ein Strohhalm, an dem der<br />

CDU-Mann sich festklammernwill.<br />

An der Messe hat Palmer wenig<br />

Interesse. Willig lässt er sich zwar<br />

durch die großen Hallen führen,<br />

Rolltreppe rauf, Rolltreppe runter.<br />

Auch eine Virtual-Reality-Brille setzt<br />

er auf, mit der er das Messegelände<br />

virtuell erkunden soll. Palmer dreht<br />

sich mit dem schwarzen Kasten vor<br />

Augen und einem Joystick in der<br />

Hand im Kreis.„Wo ich in der Realität<br />

stehe, weiß ich grade nicht“, sagt<br />

er. In einer der großen Veranstaltungshallen,<br />

die auf 11 000 Besucher<br />

ausgelegt ist, gibt er zu, dass die Ausmaße<br />

beeindruckend seien: „Hier<br />

passt jeder Tübinger Stadtteil rein.“<br />

Aber am Ende bleibt Palmer bei<br />

allem Dissens mit seiner Partei ein<br />

Grüner: Wirtschaftlich sei das alles<br />

tiptop, zieht er –wieder vor der Tür<br />

angekommen –sein Fazit. Aber zu<br />

den grünen Fragen: Wie hoch ist der<br />

Kritiker<br />

unter<br />

sich<br />

Boris Palmer und Burkard Dregger<br />

auf Tour: Der grüne Tübinger<br />

Oberbürgermeister und der <strong>Berliner</strong><br />

CDU-Fraktionsvorsitzende machen<br />

einen schönen Ausflug durch die<br />

Stadt, die sie nicht so schön finden<br />

Kohlendioxid-Ausstoß? Gibt es Solarpanels?<br />

hätten die Messechefs<br />

und Dregger keine Antworten gehabt.<br />

„Dakann man dran arbeiten.“<br />

Nach nur einer halben Stunde<br />

geht es zur Leipziger Straße. Bereits<br />

auf dem Wegblüht Palmer auf, als er<br />

auf dem Kaiserdamm parkende Autos<br />

links, rechts und auf dem Mittelstreifen<br />

entdeckt. „Hier haben Sie<br />

mich doch hingebracht, um mich zu<br />

schockieren!“ Palmer ist Verkehrsexperte,<br />

Tübingen will er zur autofreien<br />

Stadt machen: 25 Prozent<br />

mehr Jobs bei 32 Prozent weniger<br />

Kohlendioxid-Ausstoß hat er geschafft,<br />

mit diesen Zahlen geht er<br />

hausieren. Wieeresmachen würde?<br />

„Nach dem Kopenhagener Modell“,<br />

sagt er. Parkplätze weg, stattdessen<br />

ein fünf Meter breiter Fahrradstreifen<br />

und Begegnungszonen.<br />

Seine Expertise in diesem Bereich<br />

ist Palmers grüne Trumpfkarte,die er<br />

VonAnnika Leister und Peter Neumann<br />

bereits am Abend zuvor bei einer<br />

Diskussion über die Verkehrspolitik<br />

beim Bündnis „Stadt für Menschen“<br />

ausspielte. Nicht nur, dass Palmer<br />

Bescheid weiß, Erfahrungen und Erfolge<br />

vorweisen kann: Er vertritt<br />

seine Ideen auch mit einer Leidenschaft<br />

und Angstfreiheit, die <strong>Berliner</strong><br />

von ihren aktuellen Verkehrspolitikernindieser<br />

Form nicht kennen.<br />

Fast schon ungläubig nahm das<br />

Publikum wahr,dass sich dieses Feld<br />

auch mit Verveund Freude beackern<br />

lässt. DerTübinger verwies nicht auf<br />

Fristen, Zuständigkeiten, immer<br />

neue Untersuchungsschlaufen und<br />

andere Unpraktikabilitäten, die von<br />

<strong>Berliner</strong> Politikern gern aufgelistet<br />

werden. „Das muss man einfach machen“,<br />

sagte er,auch wenn es „rechtlich<br />

nicht zulässig“ sei: So eine Äußerung<br />

kennen die <strong>Berliner</strong> von ihren<br />

Verkehrsverantwortlichen nicht. Das<br />

grüne Spektrum in Berlin ist da keine<br />

Ausnahme – was bereits reichlich<br />

Enttäuschung hervorgerufen hat.<br />

Undsoquittierten die hundert<strong>Berliner</strong>,<br />

die in die Stadtwerkstatt Karl-<br />

Liebknecht-Straße gekommen waren,<br />

die Ausführungen des Grünen<br />

aus dem Südwesten begeistert mit<br />

Applaus. Obwohl schwäbelnde Anzugträger<br />

in Berlin normalerweise<br />

wahrlich keine Sympathie genießen.<br />

„Ich kann nicht verstehen, warum<br />

die Friedrichstraße noch keine Fußgängerzone<br />

ist“, sagte Palmer. Ökonomisch<br />

wäre es sinnlos, eine so<br />

wichtige Einkaufsstraße größtenteils<br />

für Autos freizugeben. Schwäbisches<br />

Denken sähe anders aus. Darum<br />

sein Plädoyer: „Die Friedrichstraße<br />

morgen zumachen – das ist zwingend.“<br />

Starker Beifall, schon wieder.<br />

Als Radfahrer würde man in Berlin<br />

schlecht behandelt, irgendwo<br />

„hingeschubst“ und auf Restflächen<br />

verwiesen. Palmer versuchte zu erklären,<br />

warum viele das Gefühl auch<br />

in grün regierten Bezirken wie<br />

Kreuzberg haben: In Berlin bedeute<br />

Grün sein „primärIdentitätspolitik“,<br />

es gehe um Geschlecht, sexuelle Orientierung.<br />

Wichtige Themen, doch<br />

die Ökologie sei ebenfalls wichtig.<br />

Boris Palmer wurde 2006 auf seinen<br />

Posten gewählt. „Als ich anfing,<br />

hatten wir 50 000 Euro Radverkehrsetat“,<br />

erinnerte er sich. 2018 waren<br />

es 800 000 Euro. 2019 bis 2021 stünden<br />

dank Bundesförderung jährlich<br />

fünf Millionen Euro zur Verfügung –<br />

60 Euro proKopf und Jahr.Zum Vergleich:<br />

2018 gab Berlin für die Radverkehrsinfrastruktur<br />

13,4 Millionen<br />

Euro aus –pro Kopf etwa 3,60 Euro.<br />

Wer allerdings nur dannach<br />

trachte, den Menschen „ihr heiligs<br />

Blechle“ wegzunehmen, werdescheitern,<br />

warnte der Gast.Wichtiger sei es,<br />

Stadtviertel wie in Tübingen so zu<br />

planen, dass dort private Autos nicht<br />

gebraucht würden –weil die Bushaltestelle<br />

näher ist als der Parkplatz.<br />

Nurnoch ein Viertel aller Wege in<br />

seiner Stadt werden per Auto zurückgelegt,<br />

sagte Palmer, der weder Privatauto<br />

noch Dienstwagen besitzt.<br />

Nachdem eine Straße zugunsten von<br />

Radfahrern und Fußgängern umgebaut<br />

worden war, sank dort die Zahl<br />

der Autos um die Hälfte.„Man muss<br />

Annika Leister<br />

hat kein Bedürfnis,<br />

nach Tübingen zu fahren.<br />

sie gar nicht verbieten, es macht aber<br />

keinen Spaß mehr,dazufahren.“<br />

Ein Auftritt, der nicht zum meist<br />

grämlichen <strong>Berliner</strong> Diskurs passte,<br />

und gegen den viele Gegenargumente<br />

verblassten. Allerdings dominierten<br />

pikierte Reaktionen: „Jaja,<br />

die heile,ungeschundene,ungeteilte<br />

Welt“, ätzte Stefan Gelbhaar, Grünen-Bundestagsabgeordneter<br />

aus<br />

Berlin, auf Twitter –was Jan Thomsen,<br />

Sprecher derVerkehrssenatorin,<br />

gefiel. „Schön, dass BP die Hauptstadt<br />

kennenlernt. Allein Pankow ist<br />

fast fünfmal so groß wie Tübingen.“<br />

Dass Tübingen mit Berlin kaum<br />

zu vergleichen ist, weiß auch Palmer<br />

selbst. Bei der Tour mit der CDU am<br />

Mittwoch lässt er Tübingen meist<br />

außen vor, stattdessen zieht er immer<br />

wieder Stuttgart als Vergleich<br />

heran, die baden-württembergische<br />

Landeshauptstadt, die 632 743 Einwohner<br />

hat. Immer noch etwa drei<br />

Millionen weniger als Berlin.<br />

Zweisamkeit statt Bürgergespräch<br />

Als letzten Punkt auf der Berlin-Tour<br />

hat Dregger den Görlitzer Park eingeplant,<br />

den er als „größten Drogenumschlagplatz<br />

Europas“ ankündigt<br />

und den die Bürger gar nicht mehr<br />

nutzen könnten. Nur sind hier am<br />

Mittwochmittag gar keine Dealer anzutreffen,<br />

sondern ein Polizist, Kinder<br />

auf dem Spielplatz, eine Frau mit<br />

Hund und viele leereParkbänke.<br />

MitAnwohnernwolle man reden,<br />

kündigte die CDU an. Der einzige<br />

aber, der ihrer Einladung gefolgt ist,<br />

ist selbst CDU-Mitglied. Ein anderer<br />

Mann ist gekommen, weil ihn ärgert,<br />

dass er nicht gefragt wurde, obwohl<br />

er Mitglied des Parkrats ist, eine vom<br />

Bezirksamt unterstützte Anwohner-<br />

Initiative. Er ist sauer und sagt, die<br />

CDU suche sich die Leute aus, die<br />

sprechen dürften. Burkard Dregger<br />

sagt: „Jetzt lassen Siedochmal.“<br />

Viel lieber will er Abschlussstatements<br />

in die Kameras geben, Seite<br />

an Seite mit Palmer. „Hat Spaß gemacht“,<br />

sagt Dregger. Die Reaktion<br />

der Grünen auf Palmers Besuch sei<br />

unsouverän und unreflektiert. Palmer<br />

nennt seine Generalkritik an<br />

Berlin überspitzt. „Aber ich bleibe<br />

bei meiner Meinung.“<br />

Peter Neumann<br />

freut sich, dass esVerkehrspolitiker<br />

mit Vervegibt.

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