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Berliner Zeitung 21.02.2019

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 44 · D onnerstag, 21. Februar 2019 – S eite 21 *<br />

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Feuilleton<br />

Nachruf<br />

auf die Schauspielerin<br />

Christine Gloger<br />

Seite 23<br />

„Wohast du nur mein Leben lang gesteckt?“<br />

Das fragt sich die Hauptfigur in Julian Barnes neuem Roman „Die einzige Geschichte“ Seite 22<br />

Toni Morrison<br />

Die Quelle der<br />

Selbstachtung<br />

Arno Widmann erlebt zwei<br />

Länder durch die gemeinsame<br />

Sprache getrennt.<br />

Gerade habe ich mir das neue<br />

Buch der Literaturnobelpreisträgerin<br />

Toni Morrison „Mouth Full<br />

of Blood“ (Ein Mund voll mit Blut)<br />

gekauft. Es ist kein neuer Roman,<br />

sondern essind Essays, Reden, Meditationen.<br />

Ich habe noch keinen<br />

Blick hineingeworfen. Da werde ich<br />

in einer Zeitschrift auf Toni Morrisons<br />

neuestes Buch hingewiesen:<br />

„The Source of Self-Regard“ (Die<br />

Quelle der Selbstachtung). Hat die<br />

88-Jährige gleichzeitig zwei neue Bücher<br />

vorgelegt?<br />

Dann wird mir klar: Ich hatte die<br />

englische Ausgabe gekauft. Die Anzeige<br />

wies auf die amerikanische hin.<br />

Es ist dieselbe Sammlung vonbereits<br />

erschienenen mit einigen wenigen<br />

bisher unveröffentlichten Texten.<br />

Auch die Seitenzahl ist identisch.<br />

NurUmschlag und Titel variieren.<br />

Ersterer ist in der englischen Ausgabe<br />

in je zwei verschiedenen Rotund<br />

Blautönen gehalten. In der amerikanischen<br />

in Rosa.<br />

Ichhatte zunächst den amerikanischen<br />

Titel interpretiert als eine<br />

Konzession an die fast schon verzweifelte<br />

Züge annehmende amerikanische<br />

Suche nach der eigenen<br />

Identität. Die janie die Suche nach<br />

etwas ist, das da ist, sondernimmer<br />

die Auseinandersetzung darüber,<br />

worin sie bestehen soll. Wer, mit<br />

anderen Worten, hinein- und wer<br />

hinausgehört.<br />

Wer über die Quelle der Selbstwertschätzung<br />

verfügt, der ist weniger<br />

angewiesen auf das, was andere<br />

von ihm halten. Sie gilt es also zu<br />

stärken. Nun, da ich den Umschlag<br />

gesehen habe, ändert sich an dieser<br />

Sicht fast nichts und doch fast alles.<br />

Denn das Rosa klassifiziert das<br />

Buch als eines für ein weibliches Publikum.<br />

Bei der Frage nach der<br />

Selbstwertschätzung geht es also<br />

um die der Frauen, für die sie besonders<br />

wichtig ist, weil sie weitgehend<br />

noch immer als „zweites Geschlecht“<br />

angesehen werden. Ganz<br />

gleichgültig, wie die Einzelne geschätzt<br />

werden mag, als Geschlecht<br />

sind sie zweitrangig.<br />

Der Titel der amerikanischen<br />

Ausgabe erinnert die potenziellen<br />

Leserinnen daran, dass sie nicht<br />

Ausschau halten müssen nach Bestätigung<br />

vonaußen. Siemüssen lernen,<br />

sie aus sich selbst zu beziehen.<br />

Der Vortrag „The Source of Self-Regard“<br />

aus dem Jahre1992 hat mit solchen<br />

mehr aus Therapiesitzungen<br />

kommenden Überlegungen nichts<br />

zu tun. In ihm erzählt Toni Morrison<br />

davon, wie sie 1987 „Menschenkind“<br />

–der englische Titel ist „Beloved“ –<br />

und 1992 „Jazz“ schrieb, wie sie also<br />

einmal sich suchte und fand in der<br />

vergangenen Geschichte der Afroamerikaner<br />

und das andere Mal in<br />

ihrer Gegenwartgebliebenen Kultur.<br />

Links die amerikanische, rechts die englische<br />

Ausgabe derselben Sammlung<br />

Wenn man weiß wie, kann man den Rahmen des Gesagten selbst bestimmen.<br />

Schön im Rahmen<br />

Die ARD wehrt sich gegen die Kritik an einem internen Strategiepapier –und hat nichts begriffen<br />

VonHarry Nutt<br />

Lügenpresse, Staatsfunk,<br />

Zwangsgebühren –das Vokabular,mit<br />

dem der öffentlich-rechtliche<br />

Rundfunk<br />

seit einiger Zeit traktiertwird, spricht<br />

nicht gerade für eine innige Beziehung<br />

der Nutzer zu ihrem Angebot.<br />

Eher schon kann man voneiner teilweise<br />

sehr feindselig ausgetragenen<br />

Gegnerschaft sprechen, die insbesondere<br />

die Fernsehmacher als<br />

Agenten eines Staatskomplotts ausgemacht<br />

hat, die den redlichen und<br />

um alles Mögliche besorgten Bürgernanden<br />

Kragen wollen.<br />

Das gute Argument und die<br />

freundliche Gegenrede, dass das<br />

journalistische Selbstverständnis<br />

in Wahrheit ganz anders gelagert<br />

sei, helfen aber nicht weiter. Wer<br />

sagt, dass er den Begriff der Lügenpresse<br />

für unangemessen hält,<br />

stärkt letztlich nur die moralische<br />

Attacke des sich immer stärker<br />

wappnenden ideologischen Gegners.Sosieht<br />

es jedenfalls die Kognitionswissenschaftlerin<br />

Elisabeth<br />

Wehling, die von der ARD damit<br />

beauftragt worden ist, ein<br />

Strategiepapier für den Umgang<br />

mit derlei Fragen und Phänomenen<br />

zu erstellen.<br />

Elisabeth Wehling hat geliefert.<br />

Auf89Seiten hat sie ein sogenanntes<br />

Framing-Manual für „unseren<br />

gemeinsamen, freien Rundfunk<br />

ARD“ erstellt. Seit dieses Manual<br />

am Sonntag auf der Webseite netzpolitik.org<br />

veröffentlicht wurde,<br />

hagelt es Kritik an der ARD. Menschen,<br />

die bislang das schlimme<br />

Wort von der Lügenpresse eher<br />

nicht in den Mund genommen haben,<br />

sprechen von Gehirnwäsche<br />

und Orwell-Jargon. In dem Framing-Manual<br />

werden Handreichungen<br />

formuliert, die dazu anleiten,<br />

schöner über die ARD zu<br />

sprechen. Elisabeth Wehling hat<br />

die Kritik kommen sehen, sie betrachtet<br />

ihr Papier lediglich als interne<br />

Arbeits-und-Diskussionsgrundlage.<br />

Dumm nur, dass es öffentlich<br />

geworden ist und nun so<br />

viele darüber mitreden wollen.<br />

In ihrem Papier erläutert Wehling<br />

ihren Ansatz, dem zufolge einzelne<br />

Wörter und Begriffe nie unschuldig<br />

und für sich allein daherkommen,<br />

sondern immer gleich<br />

ein ganzes Wortfeld anderer Begriffe<br />

und Assoziationen erzeugen.<br />

„Jedes einzelne Wort aktiviert<br />

einen Frame im Kopf des Rezipienten.<br />

(…) DasWort‚Salz‘ etwa aktiviert<br />

einen Frame, der automatisch<br />

auch Konzepte wie Essen<br />

und Geschmack, und sogar Durst,<br />

impliziert.“<br />

DasWort Frame heißt übersetzt<br />

Rahmen, und im Bereich der Soziologie<br />

hat es eine lange und folgenreiche<br />

Geschichte, die auf den<br />

kanadischen Soziologen Erving<br />

Goffman zurückgeht, der in seinem<br />

Werk „Rahmen-Analyse“<br />

(Frame analysis) von1974 sogleich<br />

eine bedeutende Verhaltens-und-<br />

Gesellschaftstheorie entwarf. Der<br />

von Elisabeth Wehling verwandte<br />

Begriff des Framings ist bestenfalls<br />

eine Art Camping-Version der<br />

Goffmanschen Theorie. Der Name<br />

Goffman wird indem Papier nicht<br />

genannt.<br />

Dafür aber werden die ARD und<br />

Wehling nicht kritisiert. Vielmehr<br />

geht es in dem Framing-Manual<br />

um den Versuch einer ambitionierten<br />

Sprachmanipulation. Was<br />

soll in welchen Zusammenhängen<br />

gesagt werden – und was lieber<br />

nicht? Das Wort Konsum etwa ist<br />

laut Wehling vollends diskreditiert.<br />

Man solle, so die Empfehlung,<br />

tunlichst vermeiden, jemanden,<br />

der Medien konsumiert, einen<br />

Medienkonsumenten zu nennen.<br />

„Das Wort Konsument“,<br />

schreibt Wehling, „hat schwerwiegende<br />

Folgen für das Voranbringen<br />

der Interessen der ARD. (…)<br />

Der Frame, der in unseren Köpfen<br />

durch den Begriff ‚Konsument‘ aktiviert<br />

wird –ebenso durch weitere<br />

Begriffe wie ‚Angebot‘ oder ‚günstige<br />

TV-Flatrate‘–macht die Anliegen<br />

und Handlungen der ARD unmoralisch.“<br />

Wehling schlägt indes ein positives<br />

Framing vor, gern auch in alternativen<br />

Formulierungen wie: „unser<br />

„Der Frame, der in unseren Köpfen durch<br />

den Begriff ‚Konsument‘ aktiviert wird,<br />

macht die Anliegen und Handlungen<br />

der ARD unmoralisch.“<br />

Die Kognitionswissenschaftlerin Elisabeth Wehling in ihrem „Framing-Manual“<br />

GETTY IMAGES<br />

gemeinsamer,freier Medienverbund<br />

ARD“ oder „unsere gemeinsamen,<br />

öffentlichen ARD-Medien“. Gegenüber<br />

der Konkurrenz darf man<br />

auch schon einmal etwas forscher<br />

texten. Private Medien werden in<br />

dem Rahmen zu„profitwirtschaftlichen<br />

Sendern“ oder „medienkapitalistischen<br />

Heuschrecken“.<br />

Man solle das „Framing-Manual“<br />

aber nicht als Formulierungshilfe<br />

für Kommentatoren der ARD-<br />

Tagesschau missverstehen. Entstanden<br />

ist das Papier wohl aus dem<br />

Bedürfnis heraus, den erheblichen<br />

Legitimationsproblemen des öffentlich-rechtlichen<br />

Rundfunks etwas<br />

entgegenzusetzen. Seit der Reform<br />

des Beitragssystems im Jahr<br />

2013, durch die prinzipiell jeder<br />

Haushalt zu Zahlungen verpflichtet<br />

wird, ist das Misstrauen gegen das<br />

Modell des durch Gebühren finanzierten<br />

Rundfunks und Fernsehen<br />

erheblich gewachsen.<br />

Auch dagegen hat Elisabeth<br />

Wehling einen Vorschlag parat.<br />

Zur rhetorischen Abwehr all jener,<br />

die das Gebührensystem geißeln,<br />

schlägt sie vor, vom„Rundfunkkapital<br />

der Bürger“ zu sprechen, „die<br />

sich in Deutschland seit jeher auf<br />

diese Weise ihren gemeinsamen,<br />

freien Rundfunk ARD ermöglichen“.<br />

Als es am Dienstag vielfältige<br />

Protestnoten gegen diese Art<br />

der paternalistisch-sprachlichen<br />

Vor- und Nachsorge gab, versuchte<br />

ARD-Chefredakteur Rainald<br />

Becker einen befreienden<br />

Schritt aus der Deckung. Er selbst<br />

benötige einen solchen Leitfaden<br />

nicht, halte die an der ARD geäußerte<br />

Kritik aber für eine künstlich<br />

aufgeblasene Diskussion.<br />

Das kann man so sehen. Dumm<br />

nur, dass der Kern des Problems<br />

mit solch einer Haltung mutwillig<br />

übersehen wird. Anstelle einer Investition<br />

in die Verbesserung der<br />

journalistischen Grundlagen –Recherche,<br />

Personal, Vielfalt und Variation<br />

der Darstellungsformen –<br />

setzt man auf Schönfärberei, die<br />

das grassierende Misstrauen in<br />

den Journalismus zu einem Ausdrucksproblem<br />

erklärt. Es gibt<br />

viele gute Gründe, für den Erhalt<br />

des öffentlich-rechtlichen Rundfunks<br />

einzutreten. In diesem Fall<br />

aber verhält sich die ARD wie das<br />

Management vonVWund anderer<br />

Autokonzerne, die schlechte Abgaswerte<br />

mit einer Software bearbeitet<br />

haben, die auf dem Prüfstand<br />

die gewünschten Ergebnisse<br />

liefert.<br />

War guter Journalismus einmal<br />

mit Vorstellungen von Einfallsreichtum,<br />

Wahrheit und Wahrhaftigkeit<br />

verknüpft, scheint man angesichts<br />

der großen Ratlosigkeit in<br />

den Entscheidungsgremien der ARD<br />

auf die Schützenhilfe aus den manipulativen<br />

Baukästen der Manager-<br />

Fortbildung zu hoffen. Rahmen hin<br />

oder her: Der Fall ergibt ein besorgniserregendes<br />

Gesamtbild.<br />

NACHRICHTEN<br />

Einblick in Pavillon für<br />

Kunst-Biennale in Venedig<br />

Erste Einblicke in die Gestaltung des<br />

deutschen Pavillons auf der Kunst-<br />

Biennale in Venedig hat die KuratorinFranciska<br />

Zólyom am Mittwoch<br />

in Leipzig gegeben. Diemit der Gestaltung<br />

des Pavillons beauftragte<br />

Künstlerin Natascha Süder Happelmann<br />

hatte bei einer ersten Präsentation<br />

im Herbst in Berlin für Aufsehen<br />

gesorgt, als sie ihren Kopf unter<br />

einer an einen riesigen Stein erinnerenden<br />

Skulptur verbarg. Hinter dem<br />

Pseudonym Natascha Süder Happelmann<br />

steht Natascha Sadr Haghighian,<br />

die an der Hochschule für<br />

Künste Bremen Professorin für Bildhauerei<br />

ist. In Leipzig wurde am<br />

Mittwoch ein Video der Künstlerin<br />

gezeigt. Daringeht sie über Landstraßen<br />

und durch Industriegebiete<br />

in Italien, akustisch begleitet vonitalienischen<br />

Demonstrationen und<br />

Musik. DieBiennale in Venedig findet<br />

vom11. Maibis zum 24. November<br />

statt. (dpa)<br />

„Rockpalast“-Erfinder<br />

Peter Rüchel ist tot<br />

Peter Rüchel, Mit-Erfinder der Musiksendung<br />

„Rockpalast“, ist nach<br />

Angaben des WDR am Mittwoch im<br />

Alter von81Jahren in Leverkusen gestorben.<br />

„Mit<br />

dem Rockpalast<br />

haben er und Regisseur<br />

Christian<br />

Wagner vor<br />

mehr als 40 Jahrenetwas<br />

Neues,<br />

Aufregendes und<br />

Einzigartiges geschaffen“,<br />

erklärte<br />

WDR-Intendant<br />

Tom<br />

Peter Rüchel<br />

(1937–2019)<br />

Buhrow.Der gebürtige <strong>Berliner</strong> kam<br />

nach Stationen beim Sender Freies<br />

Berlin und beim ZDF 1974 zumWDR<br />

und wurde Leiter des Jugendprogramms.Anfang<br />

1976 startete der<br />

WDR ein wöchentliches Jugendprogramm,<br />

in dem es einmal im Monat<br />

unter dem Namen „Rockpalast“<br />

auch Live-Musik gab.Die erste reguläreRocknacht<br />

gab es vom23. auf<br />

den 24. Juli 1977. (dpa)<br />

<strong>Berliner</strong> Dokfilmproduzenten<br />

mit Oscar-Chancen<br />

DPA<br />

Countdown zu den Oscars für den<br />

syrischen Dokumentarfilmer Talal<br />

Derkimit seiner deutschen Koproduktion<br />

„Of Fathers And Sons –Die<br />

Kinder des Kalifats“:Wenige Tage vor<br />

der Trophäen-Gala in der Nacht zu<br />

Montag sind in Los Angeles die nominierten<br />

Dokumentarfilmer vorgestellt<br />

worden. Sein <strong>Berliner</strong> Produzenten-Team<br />

sei gerade rechtzeitig<br />

eingetroffen, sagte Derkibei dem<br />

Empfang am Dienstagabend (Ortszeit).<br />

DerinBerlin lebende Syrerwar<br />

über einen Zeitraum vonzweiJahren<br />

der Familie eines islamistischen<br />

Kämpfers während des syrischen<br />

Bürgerkriegs gefolgt. (dpa)<br />

Aylin Tezel verlässt den<br />

Dortmunder „Tatort“<br />

DieSchauspielerin Aylin Tezelverlässt<br />

den Dortmunder „Tatort“, in<br />

dem sie seit 2012 die Kommissarin<br />

Nora Dalay spielt. Siekündigte sie ihrenRückzug<br />

für das Jahr 2020 an.<br />

Mantrenne sich „in bester Freundschaft“<br />

,ließ der produzierende Sender<br />

WDR wissen. (BLZ)

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