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Berliner Zeitung 21.02.2019

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7Norrington|Rouvali<br />

Musikalisches Reifezeugnis<br />

Santtu-Matias Rouvali und Simone Rubino am 20.04.<br />

Auch bei seinem dritten DSO-Besuch hat<br />

Santtu-Matias Rouvali Sibelius im Gepäck.<br />

»Ich möchte immer ein Stück aus meinem<br />

Heimatland mitbringen«, erzählt der finnische<br />

Shootingstar und Chef der Göteburger<br />

Sinfoniker und der Tampere Filharmonia in<br />

einem Interview, »sowas wie eine finnische<br />

Identität oder auch Mentalität.Inder Musik<br />

vonSibelius ist alles drin: Sie erzählt vonder<br />

Politik, von der Natur, von den Menschen<br />

und davon, wie verzweifelt wir einmal waren.<br />

Heutzutageist das anders, 2018wurden<br />

wir von der UN schließlich zum glücklichsten<br />

Volk der Welt erklärt.«<br />

Meister der Tonkunst<br />

Diesmal hat er einen frühen Sibelius mitgebracht.<br />

Seit den 1860er-Jahren, als Zar<br />

Alexander II. den russisch beherrschten Finnen<br />

weitgehend freie Hand ließ, entwickelte<br />

sich ein reges politisches und kulturelles Leben,<br />

das mit der Herausbildung einer finnischen<br />

Identität einherging. Und so verwundert<br />

es nicht, dass die Musik des jungen Jean<br />

Sibelius überschwänglich aufgenommen wurde. Nachdem er<br />

sich in Wien für Bruckner begeistert und die Schöpfungsmythen<br />

und Heldenerzählungen des finnischen Nationalepos<br />

›Kalevala‹ als Inspirationsquelle für sich entdeckt hatte, begründete<br />

der ›Kullervo‹-Zyklus 1892 seinen Ruf als »Meister<br />

und Bannerträger der jungen finnländischen Tonkunst«, wie<br />

der Musikkritiker Karl Flodin schrieb. 1893 bat man Sibelius<br />

um die Bühnenmusik für die Festveranstaltung einer Studentenverbindung<br />

inHelsinki; »Tableaux vivants« sollten<br />

historische Szenen aus der Provinz Karelien nachstellen, die<br />

als Wiege der finnischen Kultur gilt. Sibelius zögerte, ließ<br />

sich aber von einem üppigen Honorar überzeugen. Doch<br />

trotz einer stürmisch aufgenommenen Uraufführung zog er<br />

das Werk zunächst zurück. Für den Konzertsaal stellte er<br />

schließlich die noch heutebeliebte, dreisätzige›Karelia‹-Suite<br />

zusammen –das frühe Reifezeugnis eines Komponisten, der<br />

bereits damals mehr war als bloße Projektionsfläche für die<br />

Empfindungen einer erwachenden Nation. Bald darauf solltenihm<br />

seine Symphonischen Dichtungen und Symphonien<br />

zu Weltruhm verhelfen.<br />

Enormen Erfolg konnte auch James MacMillan mit seinem<br />

packenden Schlagzeugkonzert ›Veni, veni, Emmanuel‹ von<br />

1993 verzeichnen, das binnen 10 Jahren 300 Mal aufgeführt<br />

wurde. Rouvali, der seine Karriere ursprünglich als Schlagzeuger<br />

begann, hat als Solisten den Italiener Simone Rubino<br />

eingeladen, der nicht nur für Klangfarben und rhythmische<br />

Präzision, sondern auch für seine empfindsame und differenzierteSpielweise<br />

gelobt wird. Der Gewinner des ARD-Musikwettbewerbs<br />

legte beim DSO bereits 2016 mit dem hochkomplexen<br />

Konzert Friedrich Cerhas ein furioses ›Debüt im<br />

Deutschlandradio Kultur‹ vor.<br />

VonExtremen geformt<br />

Wie die ›Karelia‹-Suite, so erzählt auch Dmitri Schostakowitschs<br />

ZwölfteSymphonie vonhistorischen, für die Sowjetunion<br />

identitätsstiftenden Ereignissen. Dem Andenken<br />

Lenins gewidmet,erinnertsie mit ihrem Untertitel ›Das Jahr<br />

1917‹ und den Sätzen ›Revolutionäres Petrograd‹, ›Rasliw‹<br />

(einem Versteck Lenins), ›Aurora‹ (einem russischen Panzerkreuzer<br />

mit meuternden Soldaten) und ›Morgenröte der<br />

Menschheit‹ an die russische Oktoberrevolution –die nicht<br />

nur den Zarismus beendete, sondern auch Finnland seine<br />

Selbständigkeit ermöglichte. Im Westen wurdedas schonmal<br />

als affirmative Parteimusik geschmäht. Doch bei Schostakowitsch,<br />

dessen Künstlerpersönlichkeit zwischen den Extremen<br />

der Vereinnahmung und Unterdrückung durch den<br />

Staatsapparat geformt wurde, ist der erste Eindruck bekanntlich<br />

selten auch der letzte.<br />

MAXIMILIAN RAUSCHER<br />

Jean Sibelius ›Karelia‹-Suite<br />

James MacMillan ›Veni, veni, Emmanuel‹ –<br />

Konzert für Schlagzeug und Orchester<br />

Dmitri Schostakowitsch Symphonie Nr.12d-Moll ›Das Jahr 1917‹<br />

SANTTU-MATIAS ROUVALI<br />

Simone Rubino Schlagzeug<br />

Sa 20. April<br />

20 Uhr | 18.55 Uhr Einführung<br />

Philharmonie<br />

Karten von 20 €bis 63 €|AboPlus-Preis ab 17 €<br />

Weltbürger mit Heimatklang<br />

Sir Roger Norrington am27.04. mit Martinů und Mozart<br />

Er verbrachteden Großteil seines Lebens fern<br />

der Heimat, und trug das Böhmische doch<br />

immer bei sich: der Türmersohn Bohuslav<br />

Martinů aus Polička, der die Welt von oben<br />

zu beobachten lernte, bevorerzu ihr hinabstieg<br />

S. 2. Der gleich zweimal, als Geiger<br />

und Komponist,vom Prager Konservatorium<br />

flog, und sogleich ein Auskommen als Violinist<br />

fand und mit erstaunlicher Produktivität<br />

zu schreiben begann. Der 1923 auf den Spuren<br />

Debussys in Paris eine Wahlheimat und<br />

auch die Liebe fand, sich wie Strawinskyden<br />

Einflüssenvon Volksmusikund Jazz öffnete,<br />

Ballette und Opern schrieb, bis er 1940 vor<br />

den deutschen Truppen nach Amerika fliehen<br />

musste. Der mit 52 Jahren in der Neuen<br />

Welt zum Symphoniker wurde, um dann im<br />

Jahresrhythmus Symphonien abzuliefern.<br />

Der in den Fünfzigerjahren nach Europa zurückkehrte,<br />

indie geliebte, nun aber kommunistische<br />

Tschechoslowakei nicht reisen<br />

mochte und 1959 in der Schweiz verstarb.<br />

Fanstastisch und individuell<br />

Sir Roger Norrington setzt sich mit der<br />

gleichen gewitzten Beharrlichkeit, mit der<br />

er seit Jahrzehnten den vibratolosen Orchesterklang<br />

verficht, auch für verkanntes<br />

Repertoire ein. Mit Erfolg, wie sein gefeierter<br />

Vaughan-Williams-Zyklus mit dem DSO bewies.<br />

Seit 2018gilt das gemeinsame Interesse<br />

Bohuslav Martinů. Auf den<br />

Kammermusikpodien schon<br />

lange etabliert, ist dieser im<br />

Konzertsaal immer noch eine<br />

Entdeckung. Warum, das ist<br />

auch Sir Roger ein Rätsel,<br />

»denn seine Symphonien<br />

sind fantastisch, und so<br />

überaus individuell! So einen<br />

eigenständigen Klang<br />

haben nur wenige Komponisten.«<br />

Nach der Ersten im<br />

vergangenen Jahr steht am<br />

27. April Martinůs Zweite<br />

Symphonie auf dem Programm.<br />

Er schrieb sie 1943,<br />

während zweier Sommermonate<br />

ander Küste von Connecticut, und er<br />

konntedabei auf Ideen zurückgreifen, die er<br />

bei seiner Arbeit an der Ersten festgehalten,<br />

dann aber aus vielerlei Gründen nicht verwendet<br />

hatte.<br />

Geordnete Gedanken<br />

In seinen Programmanmerkungen kritisierte<br />

Martinů das Ausufern der symphonischen<br />

Form, die bis Bruckner und Mahler immer<br />

breiter und länger geworden sei, ebenso wie<br />

den Willen zur dramatischen Gestaltung, der<br />

bei den komponierenden Zeitgenossen oft<br />

nur zu Lärm führe und die Nerven der Zuhörer<br />

ruiniere; vielmehr bedürfe es»geordneter<br />

Gedanken«. Als »ruhig und lyrisch« hat<br />

Martinů seine Zweite Symphonie angelegt,<br />

die er im Auftrag tschechischer Emigranten<br />

anlässlich des 25. Jahrestages der Gründung<br />

der Tschechoslowakei schrieb. In Zeiten des<br />

Krieges entstanden, ist sie doch von pastoraler<br />

Leichtigkeit und kammermusikalischer<br />

Transparenz, melodisch, mit Anklängen an<br />

Vogelrufe, einem ausgelassenen, volkstümlich<br />

synkopisch tänzelnden Marsch im dritten<br />

Satz, und einem Finale, bei dem »etwas vom<br />

Concerto grosso in die Form einer Symphonie<br />

gefunden« hat. Die Uraufführung dirigierte<br />

der jungeErich Leinsdorf,der gerade Chef in<br />

Cleveland geworden war–und später,inden<br />

Siebzigerjahren, regelmäßig auch beim DSO<br />

gastieren sollte.<br />

An den Anfang des Konzerts stellt Norrington<br />

ein Werk, das in noch viel kürzerer Zeit<br />

entstanden war–die C-Dur-Symphonie, die<br />

Mozart1783 in Linz komponierte.Erwar eigentlich<br />

nur auf der Durchreise, als Graf Thun<br />

ihn um einen Konzertabend bat. »Und weil<br />

ich keine einzige Simphonie bey mir habe«,<br />

berichteteMozartseinem Vater, »soschreibe<br />

ich hals über kopf an einer Neuen«. Und in<br />

vier Tagen entstand ein Meisterwerk …<br />

MAXIMILIAN RAUSCHER<br />

Wolfgang Amadeus Mozart Symphonie Nr.36<br />

C-Dur ›Linzer‹<br />

Bohuslav Martinů Symphonie Nr.2<br />

SIR ROGER NORRINGTON<br />

Sa 27. April<br />

20 Uhr | 18.55 Uhr Einführung<br />

Philharmonie<br />

Karten von 20 €bis 63 €|AboPlus-Preis ab 17 €

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