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7Norrington|Rouvali<br />
Musikalisches Reifezeugnis<br />
Santtu-Matias Rouvali und Simone Rubino am 20.04.<br />
Auch bei seinem dritten DSO-Besuch hat<br />
Santtu-Matias Rouvali Sibelius im Gepäck.<br />
»Ich möchte immer ein Stück aus meinem<br />
Heimatland mitbringen«, erzählt der finnische<br />
Shootingstar und Chef der Göteburger<br />
Sinfoniker und der Tampere Filharmonia in<br />
einem Interview, »sowas wie eine finnische<br />
Identität oder auch Mentalität.Inder Musik<br />
vonSibelius ist alles drin: Sie erzählt vonder<br />
Politik, von der Natur, von den Menschen<br />
und davon, wie verzweifelt wir einmal waren.<br />
Heutzutageist das anders, 2018wurden<br />
wir von der UN schließlich zum glücklichsten<br />
Volk der Welt erklärt.«<br />
Meister der Tonkunst<br />
Diesmal hat er einen frühen Sibelius mitgebracht.<br />
Seit den 1860er-Jahren, als Zar<br />
Alexander II. den russisch beherrschten Finnen<br />
weitgehend freie Hand ließ, entwickelte<br />
sich ein reges politisches und kulturelles Leben,<br />
das mit der Herausbildung einer finnischen<br />
Identität einherging. Und so verwundert<br />
es nicht, dass die Musik des jungen Jean<br />
Sibelius überschwänglich aufgenommen wurde. Nachdem er<br />
sich in Wien für Bruckner begeistert und die Schöpfungsmythen<br />
und Heldenerzählungen des finnischen Nationalepos<br />
›Kalevala‹ als Inspirationsquelle für sich entdeckt hatte, begründete<br />
der ›Kullervo‹-Zyklus 1892 seinen Ruf als »Meister<br />
und Bannerträger der jungen finnländischen Tonkunst«, wie<br />
der Musikkritiker Karl Flodin schrieb. 1893 bat man Sibelius<br />
um die Bühnenmusik für die Festveranstaltung einer Studentenverbindung<br />
inHelsinki; »Tableaux vivants« sollten<br />
historische Szenen aus der Provinz Karelien nachstellen, die<br />
als Wiege der finnischen Kultur gilt. Sibelius zögerte, ließ<br />
sich aber von einem üppigen Honorar überzeugen. Doch<br />
trotz einer stürmisch aufgenommenen Uraufführung zog er<br />
das Werk zunächst zurück. Für den Konzertsaal stellte er<br />
schließlich die noch heutebeliebte, dreisätzige›Karelia‹-Suite<br />
zusammen –das frühe Reifezeugnis eines Komponisten, der<br />
bereits damals mehr war als bloße Projektionsfläche für die<br />
Empfindungen einer erwachenden Nation. Bald darauf solltenihm<br />
seine Symphonischen Dichtungen und Symphonien<br />
zu Weltruhm verhelfen.<br />
Enormen Erfolg konnte auch James MacMillan mit seinem<br />
packenden Schlagzeugkonzert ›Veni, veni, Emmanuel‹ von<br />
1993 verzeichnen, das binnen 10 Jahren 300 Mal aufgeführt<br />
wurde. Rouvali, der seine Karriere ursprünglich als Schlagzeuger<br />
begann, hat als Solisten den Italiener Simone Rubino<br />
eingeladen, der nicht nur für Klangfarben und rhythmische<br />
Präzision, sondern auch für seine empfindsame und differenzierteSpielweise<br />
gelobt wird. Der Gewinner des ARD-Musikwettbewerbs<br />
legte beim DSO bereits 2016 mit dem hochkomplexen<br />
Konzert Friedrich Cerhas ein furioses ›Debüt im<br />
Deutschlandradio Kultur‹ vor.<br />
VonExtremen geformt<br />
Wie die ›Karelia‹-Suite, so erzählt auch Dmitri Schostakowitschs<br />
ZwölfteSymphonie vonhistorischen, für die Sowjetunion<br />
identitätsstiftenden Ereignissen. Dem Andenken<br />
Lenins gewidmet,erinnertsie mit ihrem Untertitel ›Das Jahr<br />
1917‹ und den Sätzen ›Revolutionäres Petrograd‹, ›Rasliw‹<br />
(einem Versteck Lenins), ›Aurora‹ (einem russischen Panzerkreuzer<br />
mit meuternden Soldaten) und ›Morgenröte der<br />
Menschheit‹ an die russische Oktoberrevolution –die nicht<br />
nur den Zarismus beendete, sondern auch Finnland seine<br />
Selbständigkeit ermöglichte. Im Westen wurdedas schonmal<br />
als affirmative Parteimusik geschmäht. Doch bei Schostakowitsch,<br />
dessen Künstlerpersönlichkeit zwischen den Extremen<br />
der Vereinnahmung und Unterdrückung durch den<br />
Staatsapparat geformt wurde, ist der erste Eindruck bekanntlich<br />
selten auch der letzte.<br />
MAXIMILIAN RAUSCHER<br />
Jean Sibelius ›Karelia‹-Suite<br />
James MacMillan ›Veni, veni, Emmanuel‹ –<br />
Konzert für Schlagzeug und Orchester<br />
Dmitri Schostakowitsch Symphonie Nr.12d-Moll ›Das Jahr 1917‹<br />
SANTTU-MATIAS ROUVALI<br />
Simone Rubino Schlagzeug<br />
Sa 20. April<br />
20 Uhr | 18.55 Uhr Einführung<br />
Philharmonie<br />
Karten von 20 €bis 63 €|AboPlus-Preis ab 17 €<br />
Weltbürger mit Heimatklang<br />
Sir Roger Norrington am27.04. mit Martinů und Mozart<br />
Er verbrachteden Großteil seines Lebens fern<br />
der Heimat, und trug das Böhmische doch<br />
immer bei sich: der Türmersohn Bohuslav<br />
Martinů aus Polička, der die Welt von oben<br />
zu beobachten lernte, bevorerzu ihr hinabstieg<br />
S. 2. Der gleich zweimal, als Geiger<br />
und Komponist,vom Prager Konservatorium<br />
flog, und sogleich ein Auskommen als Violinist<br />
fand und mit erstaunlicher Produktivität<br />
zu schreiben begann. Der 1923 auf den Spuren<br />
Debussys in Paris eine Wahlheimat und<br />
auch die Liebe fand, sich wie Strawinskyden<br />
Einflüssenvon Volksmusikund Jazz öffnete,<br />
Ballette und Opern schrieb, bis er 1940 vor<br />
den deutschen Truppen nach Amerika fliehen<br />
musste. Der mit 52 Jahren in der Neuen<br />
Welt zum Symphoniker wurde, um dann im<br />
Jahresrhythmus Symphonien abzuliefern.<br />
Der in den Fünfzigerjahren nach Europa zurückkehrte,<br />
indie geliebte, nun aber kommunistische<br />
Tschechoslowakei nicht reisen<br />
mochte und 1959 in der Schweiz verstarb.<br />
Fanstastisch und individuell<br />
Sir Roger Norrington setzt sich mit der<br />
gleichen gewitzten Beharrlichkeit, mit der<br />
er seit Jahrzehnten den vibratolosen Orchesterklang<br />
verficht, auch für verkanntes<br />
Repertoire ein. Mit Erfolg, wie sein gefeierter<br />
Vaughan-Williams-Zyklus mit dem DSO bewies.<br />
Seit 2018gilt das gemeinsame Interesse<br />
Bohuslav Martinů. Auf den<br />
Kammermusikpodien schon<br />
lange etabliert, ist dieser im<br />
Konzertsaal immer noch eine<br />
Entdeckung. Warum, das ist<br />
auch Sir Roger ein Rätsel,<br />
»denn seine Symphonien<br />
sind fantastisch, und so<br />
überaus individuell! So einen<br />
eigenständigen Klang<br />
haben nur wenige Komponisten.«<br />
Nach der Ersten im<br />
vergangenen Jahr steht am<br />
27. April Martinůs Zweite<br />
Symphonie auf dem Programm.<br />
Er schrieb sie 1943,<br />
während zweier Sommermonate<br />
ander Küste von Connecticut, und er<br />
konntedabei auf Ideen zurückgreifen, die er<br />
bei seiner Arbeit an der Ersten festgehalten,<br />
dann aber aus vielerlei Gründen nicht verwendet<br />
hatte.<br />
Geordnete Gedanken<br />
In seinen Programmanmerkungen kritisierte<br />
Martinů das Ausufern der symphonischen<br />
Form, die bis Bruckner und Mahler immer<br />
breiter und länger geworden sei, ebenso wie<br />
den Willen zur dramatischen Gestaltung, der<br />
bei den komponierenden Zeitgenossen oft<br />
nur zu Lärm führe und die Nerven der Zuhörer<br />
ruiniere; vielmehr bedürfe es»geordneter<br />
Gedanken«. Als »ruhig und lyrisch« hat<br />
Martinů seine Zweite Symphonie angelegt,<br />
die er im Auftrag tschechischer Emigranten<br />
anlässlich des 25. Jahrestages der Gründung<br />
der Tschechoslowakei schrieb. In Zeiten des<br />
Krieges entstanden, ist sie doch von pastoraler<br />
Leichtigkeit und kammermusikalischer<br />
Transparenz, melodisch, mit Anklängen an<br />
Vogelrufe, einem ausgelassenen, volkstümlich<br />
synkopisch tänzelnden Marsch im dritten<br />
Satz, und einem Finale, bei dem »etwas vom<br />
Concerto grosso in die Form einer Symphonie<br />
gefunden« hat. Die Uraufführung dirigierte<br />
der jungeErich Leinsdorf,der gerade Chef in<br />
Cleveland geworden war–und später,inden<br />
Siebzigerjahren, regelmäßig auch beim DSO<br />
gastieren sollte.<br />
An den Anfang des Konzerts stellt Norrington<br />
ein Werk, das in noch viel kürzerer Zeit<br />
entstanden war–die C-Dur-Symphonie, die<br />
Mozart1783 in Linz komponierte.Erwar eigentlich<br />
nur auf der Durchreise, als Graf Thun<br />
ihn um einen Konzertabend bat. »Und weil<br />
ich keine einzige Simphonie bey mir habe«,<br />
berichteteMozartseinem Vater, »soschreibe<br />
ich hals über kopf an einer Neuen«. Und in<br />
vier Tagen entstand ein Meisterwerk …<br />
MAXIMILIAN RAUSCHER<br />
Wolfgang Amadeus Mozart Symphonie Nr.36<br />
C-Dur ›Linzer‹<br />
Bohuslav Martinů Symphonie Nr.2<br />
SIR ROGER NORRINGTON<br />
Sa 27. April<br />
20 Uhr | 18.55 Uhr Einführung<br />
Philharmonie<br />
Karten von 20 €bis 63 €|AboPlus-Preis ab 17 €